Kein Wille zum Kompromiss

Heute will die Gewerkschaft Ver.di entscheiden, ob sie die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst für gescheitert erklärt. Innenminister Schily beharrt weiter auf einer Nullrunde. Mit einem wirklichen Streik ist allerdings nicht vor Januar zu rechnen

von ULRIKE HERRMANN

Gestern sah es nicht nach einer Einigung aus: Bevor man sich in Kassel zur zweiten Verhandlungsrunde für den öffentlichen Dienst traf, äußerten die Tarifparteien ihre Erwartungen – und sie sind bisher unvereinbar. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di forderte erneut „deutlich über 3 Prozent“ für die rund drei Millionen Beschäftigten. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) konterte und wiederholte, dass „eigentlich nur eine Nullrunde in Betracht kommt“. Bei Lohnerhöhungen drohte er mit Entlassungen, um die Mehrbelastung „gegenzufinanzieren“.

Ver.di-Chef Frank Bsirske demonstrierte Widerstandswillen. „Wir werden den Streik organisieren, falls die Arbeitgeber dies uns aufzwingen.“ Mit einem wirklichen Streik ist jedoch erst im Januar zu rechnen. Vorher müsste etwa vier Wochen lang eine Schiedskommission versuchen, doch noch einen Kompromiss zu finden, falls sich die Konfliktparteien jetzt nicht einigen sollten. Die 176-köpfige Ver.di-Tarifkommission ist schon nach Kassel abgereist und will heute darüber entscheiden, ob sie die Verhandlungen für gescheitert erklärt.

Um die Arbeitgeber zu Zugeständnissen zu bewegen, kam es auch gestern zu vereinzelten Warnstreiks. So wurden im Flensburger Kraftfahrtbundesamt vorübergehend keine Punkte gesammelt. Doch ihren Höhepunkt hatten die Warnstreiks am Dienstag erreicht. Mehr als 110.000 Beschäftigte in 200 Städten legten nach Angaben der Gewerkschaften die Arbeit nieder. Vor allem am Frankfurter und am Münchner Flughafen kam es zu langen Wartezeiten.

Der Verhandlungsführer für die Kommunen, Bochums Oberbürgermeister Ernst-Otto Stüber (SPD), nannte diese Protestaktionen „eine reine Machtdemonstration“ und „illegale Erzwingungsstreiks“. Er will jetzt prüfen lassen, ob Schadenersatzansprüche gegenüber den Gewerkschaften bestehen.

Schily warnte gestern davor, den Konflikt eskalieren zu lassen: „Wenn man sich auf dem Kriegspfad befindet und großes Kampfgeschrei veranstaltet, dann kann dies die Verhandlungssituation nur negativ beeinflussen.“ Ver.di hingegen kann keine Eskalation erkennen. So hatte die IG Metall 6,5 Prozent mehr Lohn gefordert und immerhin vier Prozent durchgesetzt. „Jetzt ist Schluss mit der Abkoppelung von der Privatwirtschaft“, gab sich Bsirske gestern kämpferisch. Ansonsten fordert Ver.di noch, dass die Ostbezüge bis zum Jahre 2007 das Westniveau erreichen. Diese Idee sollte den SPD-Mann Schily nicht erschüttern, schließlich steht sie im eigenen Wahlprogramm.

Zuletzt verhandelte der öffentliche Dienst im Jahr 2000 über einen neuen Tarif. Die Einigung war mühsam, fast wäre es zum Streik gekommen, am Ende kamen etwas mehr als zwei Prozent heraus. Damit traf man sich fast in der Mitte: Schily hatte 0,6 Prozent geboten, die Gewerkschaften 5 Prozent gefordert. Dieses Feilschen wollte Bsirske diesmal auslassen und forderte gleich, was er als Abschluss anpeilt. Doch Schily scheint das Ritual zu lieben.

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