Falsche Worte fühlen

Die belgische Theatergruppe Victoria zeigt unter Josse de Pauw auf Kampnagel eine für Jugendliche konzipierte „Übung“ zur Frage, wie kindliche Adaption erwachsener Verhaltensmuster funktioniert

von LISA MONK

Alle Erwachsenen wissen, so sagt es der common sense, dass sie Kindern Vorbild sind und sein sollten. Nicht nur ihren eigenen. Manche Kinder allerdings betrachten die Eltern lebenslang als Vorbild, andere verabschieden sich im Laufe des Erwachsenwerdens von dem Vorgelebten.

Zu genau diesem Thema – der Assimilation der Kinder – hat das belgische Theater Victoria aus Gent ein spannendes Theaterexperiment für Jugendliche und Erwachsene entwickelt, das jetzt auf Kampnagel aufgeführt wird. Das Ensemble beauftragte den Film- und Theater-Regisseur, Autor und Schauspieler Josse de Pauw, ein Stück mit dem Titel Übung für Jugendliche zu schreiben. Ein Jahr lang war er artist in residence im Victoria Theater, das für alle Generationen Stücke und Performances produziert.

Weil de Pauw allerdings fürchtete, die Sprache der Kinder nicht treffen zu können, entwickelte er die Idee, Kinder dabei zu beobachten, wie sie die Erwachsenenwelt wahrnehmen. Auf der Bühne sitzen sechs Kinder im Alter zwischen zehn und 13 Jahren. Sie gucken auf mehreren Monitoren einen Film. In Schwarz-Weiß gedreht, spielt sich vor ihren Augen das alltägliche Drama der Erwachsenen ab.

In einem luxuriösen Landhaus laden Robert und Rolanda zu einem Abendessen Freunde ein. Zwei Ehepaare und zwei Männer treffen aufeinander. Anfänglich scheinen alle bester Stimmung. Man scherzt, lacht, ist angestrengt heiter. Plaudert oberflächlich über dies und das, vor allem über die neuesten Modelle erschwinglicher Konsumartikel, als da wären Jaguars, Handys, Swimmingpools oder exquisite Kochkurse. Gutverdienende, die aufzählen, wofür sie sich abrackern.

So weit, so bekannt. Aber wir sind nicht Zeugen eines Hollywoodstreifens, sondern sitzen im Theater. Folglich ist der Ton des Films gar nicht zu hören, und die Kinder haben das Wort. Sie lauschen unter Kopfhörern den Unterhaltungen der gefilmten Erwachsenen und ahmen sie nach. Sätze, Gesten und Haltungen übertragen die Kinder live auf der Bühne. Genauso gekleidet wie die Protagonisten im Film, imitieren sie die Erwachsenen, schlüpfen in deren Haut. Eine alltägliche Situation: Kinder gucken Fernsehen oder beobachten ihre Eltern, assimilieren das Gesehene und adaptieren es.

In erstaunlicher Exaktheit schaffen sie es, lippensynchron die meist bedeutungslosen Worte zu sprechen. Die Gleichzeitigkeit ihrer hellen Stimmen und ihres kindlichen Lachens und der zunehmenden Dynamik der Abendgesellschaft schafft eine seltsame Distanz zu den Emotionen der Gäste. Gleichzeitig ist es erschreckend zu sehen, wie perfekt die Kinder zum Abklatsch ihrer Elterngeneration mutieren können. Unter den Freunden zieht ein Pianist als romantischer Gegentyp alle Projektionen auf sich. Mit steigendem Alkoholpegel bricht das oberflächlich aufgelegte Glück aller Anwesenden zusammen. Verdrängte Gefühle stürzen hervor. Streit bricht aus, es fließen Tränen, neue Paar-Konstellationen bilden sich. Der schöne Schein ist hin.

Josse de Pauw wollte nicht, dass die Kinder die Gefühle nachahmen, sie sollten lediglich die Texte nachsprechen. „Die Kinder liebten es von Anfang an, die Erwachsenen zu imitieren. Ich habe sie nicht inszeniert, sondern ein Konzert dirigiert“, sagt er. Dennoch steckt mehr als nur die Nachahmung einer Form in dieser Übung. Die kleinen Erwachsenen auf der Bühne üben alle Varianten von Kommunikation und ihnen fremder Gefühlswallungen. Sie schwanken zwischen ihrer natürlichen Gestik und einer kopierten Exaltiertheit, die zwangsläufig komisch wirkt. An manchen Stellen machen sie sich über die Erwachsenen lustig.

Die Übung muss nicht verstanden sein als ein Einüben, sondern eher als ein Ausprobieren. Mit dem Effekt, dass die Kinder gleich merken, wie sich falsche Worte anfühlen. Der Versuch kann auch zur Ablehnung dieser Form von Kommunikation führen. Weshalb der Titel auch in Belgien ausgerechnet dem Deutschen entlehnt ist, bleibt rätselhaft. Sind die Deutschen Meister der Übung? Oder vorbildlich in Nicht- Komunikation? Das Stück erhielt beim holländisch-flämischen Theaterfestival 2001 den ersten Preis. Für seine Polarität. Von der wunderbaren Leichtigkeit der Kinder wissen wir, dass sie eines Tages der Standardisierung der Erwachsenen geopfert wird.

Freitag, 20. sowie Sonnabend, 21. Dezember, 19.30 Uhr, Kampnagel