Wem die Glocke schlägt

Wer bei der SPD in Berlin die Nummer eins ist? Eines steht fest: Die Abgeordneten der Fraktion sind es nicht„Der Fraktionsvorsitzende muss gut dosieren – mal taktieren, mal bitten, und auch mal hart zufassen.“

aus Berlin UTA ANDRESEN

Vielleicht hätte er nicht ins Detail gehen sollen. Dann hätte er mehr Ruhe gehabt. Doch der Abgeordnete Ottmar Schreiner, 56, tat es. Und stellte fest, dass er das Hartz-Gesetz, wie es von seiner Fraktion im Bundestag abgestimmt werden sollte, nicht mittragen könne. Genau genommen ging es um ein Detail von 2,9 Milliarden Euro, die bei der Kürzung der Arbeitslosenhilfe gespart werden sollen. „Damit werden die unteren Einkommen stärker belastet als die oberen – wenn sie das verhindert hätten, hätte ich dem Gesetz wohl zugestimmt.“ Der Abgeordnete, immerhin einst Bundesgeschäftsführer der SPD, machte seine Fraktion drei Mal auf diesen Umstand aufmerksam, doch „mein Änderungsantrag wurde nicht einmal verhandelt“. Also erklärte Schreiner seinem Fraktionsvorsitzenden, er könne aus Gewissensgründen nicht für dieses Gesetz stimmen. Gefreut hat den das kaum.

Überhaupt hat man derzeit nicht viel Freude in der SPD-Fraktion. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung die Regierungspolitik der letzten Wochen für so etwas wie einen Betriebsunfall hält. Was tut man da als Abgeordneter der SPD? Man stimmt in die Kakophonie gegen den Kanzler ein. Doch dass man zuvor die Eilgesetze abgenickt hat, mit denen Rot-Grün schnellste Reformbereitschaft signalisieren wollte, dass man dem Schlingerkurs der Regierung hinterhergetuckert ist, kann kaum ein Versehen gewesen sein. Wozu hat man schließlich einen Fraktionsvorsitzenden?

Der politische Spielraum eines Parlamentariers ist begrenzt. Hier das Grundgesetz und die Freiheit des Abgeordneten – da die Geschäftsordnung des Bundestages und die Disziplin der Fraktion, also Franz Müntefering. Der sorgt dafür, dass 250 Abgeordnete das Gesetz werden lassen, was die Genossen in der Regierung geplant haben. Und das bei einer rot-grünen Mehrheit von gerade mal neun Sitzen im Bundestag, eine Arbeitsplatzbeschreibung, die es in sich hat. Zumal diese 250 SPD-Politiker allesamt in ihren Wahlkreisen die Nummer eins ihrer Partei sind. Zwar ist in diesen Wochen nicht immer klar, wer in Berlin bei der SPD die Nummer eins ist, aber eines steht fest: Die Abgeordneten der Fraktion sind es nicht. Und so beginnen sich manche nach den Zeiten zu sehnen, als Peter Struck Fraktionsvorsitzender war und das Wort galt: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineinkommt.“ Aber das war in der vergangenen Legislaturperiode.

Jetzt läuft es eher so wie im Falle des Abgeordneten Schreiner. Bevor das Hartz-Papier ins Plenum ging, durfte er vor der Fraktion erklären, dass er nicht für dieses Gesetz stimmen werde. Probeabstimmung nennt sich das. „Das übt schon Druck auf dich aus, schließlich erfordert es Mut, allen anderen zu erklären, warum du dagegen bist.“

Im Normalfall muss es also gar nicht erst so weit kommen, wie es Schreiner 1981 bei der Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses erlebte. Damals erklärten ihm die Fraktionskollegen, er könne seine Wiederwahl vergessen, wenn er nicht der Stationierung von Pershing-2-Raketen zustimme. Nun genügte, dass der Abgeordnete Müntefering den Abgeordneten Schreiner zur Seite nahm und ihm erklärte, dass er seine Haltung zu Hartz respektiere, selbstverständlich, aber dass er auch eine Sogwirkung befürchte, denn schließlich sei die Unsicherheit in der Fraktion groß, was dieses Gesetz anbelange. Schreiner beschloss, sich der Stimme zu enthalten. Sogwirkung gleich null – das Gesetz passierte den Bundestag.

Entscheidungshilfe von Müntefering angenommen zu haben, das bereuen nun einige. Dieter Wiefelspütz, 56 und aus Lünen in Westfalen, ist innenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag. Er hat nicht viel Verständnis für dieses Gemosere. „Das ist doch Hilflosigkeit. Erst mit abstimmen, und wenn das nicht gut ankommt, dann die Schuld den anderen geben.“ Zum Beispiel dem Franz Müntefering. Dabei sei das der Einzige, der in dieser Lage die Fraktion führen könne. „Der Fraktionsvorsitzende muss seine Mittel gut dosieren – mal taktieren, mal bitten, mal durch Charisma führen und auch mal hart zufassen.“ Und immer gut informiert sein. „Ich habe noch nie erlebt, dass ein Fraktionsvorsitzender so viele Gespräche führt“, sagt ein Abgeordneter. Und sich so auf seine Zuträger verlässt, sagt ein anderer.

Müntefering, sagt Wiefelspütz, lässt sich von seinen Leuten beraten und trifft dann eine sehr eigenständige Entscheidung. Zu seinen Leuten gehört sein Büroleiter Kajo Wasserhövel, einer, über den es heißt: „Gute Zuarbeiter bemerkt man nicht.“ Kommuniziert wird über Kajo Wasserhövel. Und der kommuniziert wenig. Auf die Frage, ob er etwas zum Thema Fraktionsführung sagen könne, macht der sich eifrig Notizen, Kontrolle ist alles, und sagt dann: „Ich überlege es mir.“ Er überlegt immer noch. Dieter Wiefelspütz sagt über die Vertrauten des Fraktionschefs: „Müntefering hat ein sorgsam ausgewähltes, überaus loyales Umfeld, das er seit Jahren auf jeden neuen Posten mitnimmt.“

„Früher konnte der ein oder andere mal die Revolution ausrufen, und der Kanzler hat dem dann noch die Bahnfahrkarte besorgt. Das ist jetzt vorbei“, sagt der Hamburger Johannes Kahrs. Er klingt nicht wehmütig dabei. Der 39-Jährige ist Reservist der Bundeswehr, gehört zum Seeheimer Kreis, dem rechten Flügel der SPD, und hat nichts dagegen, dass Franz Müntefering „die Fraktionssitzungen gut im Griff hat“. Man nehme die Abstimmung zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Peter Struck ließ vor einem Jahr die Diskussion einfach laufen, nach dem Motto: Wir sind doch alle erwachsen. Das Ergebnis geriet denkbar knapp, eine SPD-Abgeordnete verließ die Fraktion. Und jetzt bei Mazedonien? Alles kein Problem. „Münteferings Leute sorgen im Vorfeld dafür, dass es nicht zu Eruptionen auf den Fraktionssitzungen kommt.“ So mag es der Abgeordnete Kahrs.

Der Abgeordnete Hubertus Heil, 30 Jahre alt und aus Peine in Niedersachsen, hat da eine andere Art, mit der Politik seiner Partei umzugehen. „Wussten Sie schon“, sagt er zur Begrüßung, „dass wir die Mehrwertsteuer für Überraschungseier heraufgesetzt haben?“ Na ja, viel Zeit zum Lachen ist ja nicht in diesen Tagen, deswegen wird Hubertus Heil auch ganz schnell wieder ernst. „Wir Abgeordnete fahren doch nach Berlin auf Montage – wir leben schließlich in den Ländern und kriegen dort den Druck ab.“ Erbaulich ist das nicht, da muss man sich schon mal zur Wehr setzen, in der Fraktion. Und das hat Hubertus Heil getan. Soweit möglich.

Beitragssicherungsgesetz. Klingt nicht schön und ist es auch nicht. Die Beiträge für die Rente müssen rauf, sagt die Regierung. Leute wie Hubertus Heil, die in der Fraktion zum „Netzwerk Berlin“ der Neuen Mitte gehören, dürfen das dann absegnen. Kommt nicht gut bei den Jungen. Also sprach der Abgeordnete Heil im Fraktionssaal von Generationengerechtigkeit und dass so der Reformanspruch der SPD auf jeden Fall nicht sichtbar werde. Der Abgeordnete Müntefering sprach davon, dass man den Helm enger schnallen müsse, schließlich habe man hier den europäischen Sozialstaat zu verteidigen.

Nachdem sich fünfzehn, zwanzig Abgeordnete mit Missvergnügen zu Wort gemeldet hatten, war die Sache entschieden: Franz Müntefering machte ein Zugeständnis. Und was für eines! Dieses Gesetz, so sein Versprechen, solle nur Erste Hilfe sein, schon im nächsten Jahr werde die Fraktion eine grundlegende Reform angehen. Na also. Schnell noch eine Erklärung zur Geschäftsordnung, in der das Anliegen der insgesamt vierzig Rentenkritiker formuliert wurde, und schon war das Gesetz durch. Ein paar Wochen nach dieser Sitzung sagt Hubertus Heil: „Mir ist auch klar, dass das kein Riesensieg ist, was die Freiheit des Abgeordneten angeht, aber wir wollten das Gesetz ja nicht scheitern lassen, sondern nur das Zugeständnis des Fraktionsvorsitzenden, dass auch tatsächlich in der Fraktion die Rentenreform disktutiert wird – und das haben wir erreicht.“

Gar keinen Sieg konnte der 26-jährige Abgeordnete Carsten Schneider aus Erfurt verbuchen. Vielleicht war es ja auch nur ein Missverständnis zwischen ihm und dem Abgeordneten Müntefering. Letzerer nämlich ließ tagelang über die geplante Absenkung der Preise für Zahntechnikerleistungen diskutieren, registrierte freundlich auch, dass drei Mal in der Fraktion Gegenstimmen laut wurden, wiegte die Kritiker in Sicherheit – und meinte dann, einen Tag vor der Bundestagsabstimmung, nun sei es zu spät, um noch etwas zu ändern. Dies ließ Carsten Schneider mit dem schalen Gefühl zurück: „Das hatte Kalkül.“ Am Abend verkündete Franz Müntefering, die Fraktionsmehrheit für die Eilgesetze stehe. Eins zu null. „Hin und wieder könnte einen der Eindruck beschleichen, dass alle sich ausmären dürfen, und zum Schluss wird doch über das abgestimmt, was vorbereitet war“, beobachtete damals ein anderer Abgeordneter die Prophylaxe à la Müntefering.

Michael Müller, 54, ist Vizechef der Fraktion. Da hört man so einiges. Zum Beispiel, „dass Münteferings Stil noch stark von seiner Rolle als Generalsekretär geprägt sei“. Betonung auf General. „Ich selbst kann das aber nicht wahrnehmen.“ Natürlich nicht. Als Politiker lernt man, darauf zu achten, wie man etwas sagt. „Das Maß an Unzufriedenheit und Unsicherheit in der Fraktion ist für mich in erster Linie Ausdruck der schwierigen Situation, mit der wir jetzt fertig werden müssen. Vieles, was man derzeit macht, ist mit Widersprüchen und Fehlern verbunden – das ist der Hektik geschuldet und dieser Phase, für die es kein Vorbild gibt.“

Disziplinierung, sagt Müller, kennt er zur Genüge, aus seinen Zeiten als Umweltexperte, als er schon mal vor versammelter Fraktion abgekanzelt wurde. Das will er seiner Umwelt nicht zumuten. Also mutet er ihr ein paar Lektionen Kant zu. Etwa diese: „Wenn ein Abgeordneter zu mir kommt, versuche ich zu erklären, dass man entweder den Erfolg im Falschen suchen kann – wie es der Neoliberalismus tut. Oder man versucht eine Renaissance des liberalen Linksseins.“ So oder so müsse jedoch „die sittliche Idee des Pragmatismus“ erkennbar sein. Manchmal kann Fraktionsdisziplin beinahe erholsam sein.

Bis zum Freitag übrigens muss Franz Müntefering dafür gesorgt haben, dass die Eilgesetze, die der Bundestag beschlossen, der Bundesrat abgelehnt und der Vermittlungsausschuss an das Parlament zurückgegeben hat, erneut den Bundestag passieren – mit Kanzlermehrheit. Die Frage ist nur, ob Müntefering es schafft, jedem Abgeordneten das Gefühl zu geben, er sei die Nummer eins. Zumindest ein wenig mehr als in den vergangenen Wochen.