„Schüler sind unser Vorbild“

In Rheinland-Pfalz hat die Ära der Ganztagsschulen begonnen. An 81 Schulen lernen Schüler von 8 bis 16 Uhr. Bildungsministerin Doris Ahnen hält die Frage des hochwertigen Lehrangebots für gelöst

Interview CHRISTIAN FÜLLER

taz: Ich gratuliere Ihnen, Frau Ahnen.

Doris Ahnen: Wofür überreichen Sie Glückwünsche?

Sie sind Vorreiterin und Vorbild für das, was der Kanzler gern im ganzen Land schaffen möchte: Ganztagsschulen.

Unsere Schüler sind das Vorbild. Eine ganze 10. Klasse in Remagen zum Beispiel nimmt freiwillig am Ganztagsschulangebot teil. Das freut mich. Wir in Rheinland-Pfalz haben eines der zentralen Themen auf den Weg gebracht, das nach der Pisa-Studie auf die Tgesordnung kam. Man kann weiß Gott nicht sagen, dass die Länder nichts tun, seitdem die deutschen Schüler schlechte Noten bekommen haben.

Dumm nur, dass sie gar keine echten Ganztagsschulen aufbauen.

Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Wir sorgen für ein hochwertiges Bildungsangebot – wenn auch in unterschiedlichen Formen. Das ist aber völlig richtig. Wenn Freiheit von Schule gelten soll, dann müssen die Schulen auch ihre jeweils eigenen Lösungen entwickeln können.

Woruf beruht die tolle Qualität ihrer Ganztagsschulen?

Wir garantieren das mit Qualitätsstandards, die jede Ganztagsschule erfüllen muss. Dazu gehören ergänzende Angebote, also zum Beispiel eine gute Hausaufgabenbetreuung. In allen Schulen müssen auch themenbezogene Lernprojekte stattfinden – denn wir wollen ja gerade nicht, dass der 45-Minuten-Rhythmus des Vormittags einfach in den Nachmittag hinein verlängert wird. Verpflichtend ist drittens die besondere Förderung für begabte Schüler sowie für jene, die Hilfe nötig haben. Und wenn Kinder von 8 bis 16 Uhr in der Schule sind, dann gehört dazu natürlich ein gutes freizeitpädagogisches Angebot.

Das ist Ihre Theorie. Die Praxis sieht aber so aus, dass im Moment der ganz normale Vormittagsunterricht stattfindet. Danach gibt’s Essen und Hilfe bei den Hausaufgaben.

Wir stellen den Schulen frei, ob sie ihren Schultag völlig neu strukturieren oder ob sie nach dem Mittagessen ein spezielles Programm anbieten.

An wie viel Schulen ist der Vormittag geblieben?

Ich gehe davon aus, dass das an keiner Schule der Fall ist. Die Rektoren berichten uns, dass selbst ein additives Schulprogramm am Nachmittag die Schule insgesamt verändert.

Konkret: Wie viele der 81 Schulen, die als Ganztagsschule gestartet sind, haben ein integriertes Angebot?

Die Mehrzahl macht es noch additiv.

Sie haben berichtet, dass die Lehrer sich mit ihren Ganztagsschulen „verdammt viel Arbeit“ gemacht haben. Was ist das Anstrengende?

Es ist eine immense Vorbereitung nötig, bevor ein Programm bis 16 Uhr steht. Manche Lehrerinnen haben die Sommerferien durchgearbeitet. Die Veränderung ist ja ganz einfach zu verstehen: Der ganze Tag muss neu geplant werden. Wer Wahlmöglichkeiten am Nachmittag bieten will, wer neue Lernformen testet, wer andere Berufsgruppen integriert, der hat viel vor sich.

Und wer tut sich die viele Arbeit an?

Sie werden sich wundern: mehr als wir im ersten Schritt fördern konnten. Die Schulen hatten im ersten Jahr vier Monate Zeit, sich bei uns für das Programm zu bewerben. Und schon nach dieser kurzen Zeit hatten wir doppelt so viele Anträge, wie wir in der ersten Runde mitnehmen konnten.

Es gibt aber Lehrerkollegien, die nicht mitmachen: Die kommen am Nachmittag nicht.

Natürlich gibt es Lehrkräfte, die diese Umstellung nicht wollen. Wir haben aber sehr viele Lehrer, die sich gerne beteiligen.

Sie haben Kooperationsverträge mit ganz vielen Organisationen geschlossen, die nachmittags Fachpersonal in die Schulen schicken – etwa der Landessportbund. Worin liegt das pädagogische Plus, wenn nach den Hausaufgaben ein bisschen Fußball gespielt wird?

Also, wir können doch nicht ewig darüber reden, die Schule auch für andere ExpertInnen zu öffnen – und dann kneifen, wenn es so weit ist. Finden Sie es nicht gut, wenn ein Förster in die Schule kommt, um ein Umweltprojekt mit den Schülern zu machen? Ich begrüße es auch sehr, wenn die Bildungsprofis der Evangelischen Kirche, einem unserer bedeutenden Kooperationspartner, in der Schule zum Zuge kommen. Wer das bedauert, hat einen sehr verengten Bildungsbegriff.

Die Nation zerbricht sich über vieles als Konsequenz auf Pisa den Kopf. Über die Ganztagsschule sprechen vor allem Sie und Frau Bulmahn. Wie kann eine Ganztagsschule Antworten auf Pisa geben?

Pisa bescheinigt uns Defizite in der Lehr- und Lernkultur. Offenbar schaffen es deutsche Schulen auch nicht so gut, Schüler individuell zu fördern. Zudem legt Pisa nahe, die festgestellten Bildungsbarrieren abzubauen. Wenn also der Bildungserfolg nach wie vor stark von der sozialen Herkunft abhängt, dann liegt es doch auf der Hand, dass ein erweitertes Bildungsangebot solche Defizite erst gar nicht entstehen lässt. Die Lehrer haben ganz andere Möglichkeiten der Förderung, wenn sie von 8 bis 16 Uhr Zeit haben. Kurz gesagt: Wir geben mehr Zeit, um neue pädagogische Ideen auszuprobieren.

Die Ganztagsschule als Masterplan?

Das sage ich nicht. Es gibt nach Pisa nicht den einen Kippschalter, den man umlegen müsste, um damit alle Probleme zu lösen. Bundespräsident Johannes Rau hat das gerade sehr richtig bemerkt. Aber die Ganztagsschule ist eine profunde Antwort auf Pisa – was die Erfüllung der individuellen Förderung angeht, genau wie den Abbau der sozialen Selektivität unserer Schulen.

Viele Hauptschulen wollen den ganzen Tag Unterricht anbieten. Dort sind die Defizite der Schüler, die sie beklagen, bereits da.

Unser Ziel ist, dass sie erst gar nicht entstehen. Daher wollen wir schwerpunktmäßig Grundschulen zu Ganztagsschulen machen. Von 300 Schulen, die wir bis Ende der Legislaturperiode 2006 aufbauen, sind 120 Grundschulen. Parallel haben wir das Kindertagestättengesetz verändert. Das heißt, auch die Kindergärten bauen ihr Ganztagsangebot aus.

Wollen auch andere Schulformen den ganzen Tag Unterricht anbieten?

Auch die Realschulen und die regionalen Schulen sind sehr interessiert. Eine gewisse Zurückhaltung gibt es bei den Gymnasien.

Das heißt auf gut Deutsch?

Dieses Jahr ist ein Gymnasium in der Nähe von Trier dabei. Nächstes Jahr kommen zwei weitere in Wörth und Traben-Trarbach hinzu.

Und wenn ich in Speyer den ganzen Tag Gymnasium haben will?

Dann ist unser Ziel, dass bis zum Jahr 2006 ein Gymnasium in der Nähe erreichbar ist. Es gibt ja bereits jetzt einige Ganztagsgymnasien, vor allem private. Die muss man zum Angebot dazurechnen.

Ihre Vorsitzende im Geiste, die Bundesbildungsministerin Bulmahn, will ein ausgefeiltes pädagogisches Konzept sehen. Werden Sie dem gerecht?

Aus eigener Erfahrung sage ich Ihnen, dass es richtig gute pädagogische Angebote gibt.

Geben Sie doch mal ein Beispiel.

Gut finde ich, wenn die Berufsorientierung in der Ganztagsschule gestärkt wird. Durch Bewerbertraining oder wenn die Praktiker selbst in die Schule kommen.

Die Schulen müssen für den Ganztagsbetrieb völlig umgebaut werden. Es braucht Mensen, Stillarbeitsräume, auch die Klassenzimmer verändern sich.

Nein, man muss nicht die ganze Schule umbauen.

In manchen Schulen kostet der Umbau 200.000 Euro. Wer zahlt dieses Geld – Sie oder die Kommunen?

Das kommt darauf an. Wenn es ein so genannter Schulbaufall ist, zahlen wir die Hälfte.

Da kommt Ihnen das Programm von Frau Bulmahn ja gerade recht. Es spart Ihnen viel Geld.

Ich freue mich ausgesprochen, dass der Bund die Länder unterstützt. Die Einzelheiten müssen wir besprechen.

Warum so zurückhaltend?

Ich bin überhaupt nicht zurückhaltend.

Aber die Union schimpft offenbar zu Recht, dass es mit dem Mittelfluss vom Bund hapert, dass das Geld hinten und vorne nicht reicht?

Ich bin der festen Überzeugung, auch die Unionsländer können es sich einfach nicht leisten, den vorhandenen Bedarf der Eltern für Ganztagsschulen zu leugnen. Das Vier-Milliarden-Programm von Rot-Grün hat das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Da kommt auch die Union nicht dran vorbei.