Gezeichneter sozialer Raum

Eine Montage, die keinen Zweifel daran lässt, wie die Sympathien verteilt sind: Der erste Teil von Jaques Tardis Comic „Die Macht des Volkes“ über die Pariser Kommune ist erschienen

Tarpagnan lässt nicht auf die Pariser schießen

von OLE FRAHM

„Es ist an der Zeit, die Pariser Kommune nicht nur als einen überholten revolutionären Primitivismus zu betrachten, dessen Irrtümer als überwunden gelten müssen, sondern als positives Experiment, dessen ganze Wahrheit noch nicht entdeckt und vollendet ist.“ Dieser Satz, am 18. März 1962 von Guy Debord, Attila Kotanyi und Raoul Vaneigem unterschrieben, hat seine Aktualität nicht verloren.

Zwar musste 1962 noch Front gegen die vorherrschende, orthodox-marxistische Geschichtsschreibung gemacht werden, in der die Pariser Kommune kein Vorbild, sondern abschreckendes Beispiel war. Doch die Auseinandersetzung mit der Pariser Kommune braucht auch heute noch Aktualisierungen wie den Comic Die Macht des Volkes von Jacques Tardi. Der erste Band dieser Trilogie nach einem Roman von Jean Vautrin, Die Kanonen des 18. März, ist jetzt bei der Edition Moderne erschienen.

Es ist kein einfaches Unterfangen, die historisch komplizierte Situation zu erzählen, durch die der Aufstand des Pariser Proletariats ermöglicht wurde. Vautrin wählt einen naheliegenden Weg: Er erzählt die Geschichte mehrerer Protagonisten, die sich den verschiedenen, antagonistischen Klassen zuordnen lassen.

Kommissar Mespluchet gehört zu den Herrschenden, die sehr klar das Versagen der Regierung Thiers erkennen und nach der vorhergesehenen Übernahme der Macht durch die Kommunarden aus der Stadt fliehen. Inspektor Barthélmy ist der Kleinbürger, der die Stellung hält und auf seinen eigenen Aufstieg nach der Niederschlagung der Kommune hofft. Der schnauzbärtige Fil-de-Fer arbeitet als Schlosser und Türknacker, ein Proletarier, der für die Revolution kämpft. Er ist aber auch mit Caracole für die Gangsterorganisation von La Joncaille unterwegs, bei deren Brüchen die Reichen auch mal abgemurkst werden.

Aber es gibt ebenso Figuren zwischen den Klassen: Horace Grondin, ein ehemaliger Häftling, der inzwischen für die Polizei arbeitet, und seine private Abrechnung mit Antoine Tarpagnan zu machen hofft. Tarpagnan wiederum, Hauptmann der Infanterie, verweigert an dem denkwürdigen 18. März 1871 den Befehl seines Generals und lässt nicht auf die Pariser schießen: Die Revolution beginnt.

Alles nur Männer – Frauen kommen vor, sind heldenhaft und wortführend, aber tragen die Handlung nicht. Diese Entscheidung mutet seltsam an, angesichts einer Revolution, an der viele Frauen beteiligt waren und die wie keine zuvor für deren Gleichberechtigung eintrat.

Der Comic ist in einem klaren Schwarz-Weiß gehalten und belegt ein weiteres Mal die Meisterschaft Jacques Tardis. Es ist nach seinem Debüt Der Dämon im Eis der erste Comic, der nicht im 20. Jahrhundert spielt. Seiner Vorliebe für Stadtansichten frönt Tardi aber auch hier und gibt eine Vorstellung von einem vergessenen, ländlichen Paris. Dem trägt das ungewöhnliche Querformat des Comics Rechnung. Nicht mehrstöckige Häuser, sondern Panoramen bestimmen den Blick.

Tardi zitiert so eines der ersten städtischen Massenmedien, das panoramatische Rundumbild, für das eigens Gebäude errichtet wurden. Und seine Montage der Handlung stellt die unterschiedlichen Interessen der Protagonisten während der ersten Tage der Kommune kontrastierend gegeneinander.

Es ist kein Zufall, dass sich Tardi für dieses Projekt begeistern ließ. Zum einen handelt es sich, wie in vielen anderen seiner Alben auch, um einen Krimi. Zum anderen aber wird aufmerksamen LeserInnen der Comics seine politische Haltung nicht entgangen sein. Diese macht der Zeichner nun explizit und lässt keinen Zweifel daran, für wen er mehr Sympathien hegt.

Die Kommune wurde nach 72 Tagen blutig beendet. Der Feind ihrer Veränderungen – Selbstorganisation der Massen, ein gerechteres Leben, „die Verwirklichung eines revolutionären Urbanismus, der den sozialen Raum politisch interpretiert“, wie es die Situationisten nannten, – hat zu siegen nicht aufgehört. Ihre Aktualisierung im Comic taugt nicht zur Melancholie, sondern zur dringlichen Entdeckung ihrer Wahrheit.

Tardi/Vautrin: Die Macht des Volkes. Die Kanonen des 18. März, Edition Moderne 2002, 80 S., 17,50 Euro