„Zu viel Bismarck und Kissinger“

Tilman Zülch fordert von der neuen Grünen-Führung mehr Mut zu Menschenrechten

taz: Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Gestern hat die neue Grünen-Spitze ihre Arbeit aufgenommen. Was bleibt für die Grünen bei den Menschenrechten zu tun?

Tilman Zülch: Unser Eindruck ist, die Grünen regieren und machen es im Prinzip nicht anders, als die Regierenden vor ihnen. Ökonomische Interessen, strategische und Bündniserwägungen haben da, wo es wirklich schmerzt, Vorrang vor Menschenrechtsinteressen.

Immerhin hat der Parteitag trotz Satzungsdiskussion über Tschetschenien diskutiert.

Aber obwohl die oft zitierte grüne Basis eine Resolution beschlossen hat, macht sie darin einen Bogen um zwei harte Wahrheiten: Trotz 80.000 Toter alleine seit 1999 wird der Begriff Völkermord vermieden. Außerdem bleibt unerwähnt, dass der Außenminister gegenüber dem russischen Präsidenten Putin auf Freundschaft geschaltet hat. Die Bundesregierung kollaboriert mit der Putin-Regierung. Als Oppositionspolitiker kritisierte Joschka Fischer, was er heute vertritt: dass die territoriale Integrität Russlands geachtet werden müsse. Genau darum dreht sich aber der Konflikt: Ist Russland frei, im eigenen Land zu tun, was es will?

Kritiker sagen, Sie stellen die Möglichkeiten deutscher Einflussnahme zu simpel dar.

Russland will in vieler Hinsicht an den Westen heranrücken. Da ist Deutschland ein entscheidender Faktor. Unsere Erfahrung ist, dass westlicher Druck Dinge verändern kann. Zumal Tschetschenien für Russland eigentlich ein marginales Problem ist, wenn man seine Größe und Ökonomie am Land insgesamt misst.

Jenseits von Tschetschenien, was hat Rot-Grün versäumt?

Beispiel Srebrenica. Joschka Fischer hat die Massaker an der bosnischen Bevölkerung als seinen politischen Wendepunkt beschrieben. Heute ist Srebrenica ein erschreckender Ort, wo es viel weniger Rückkehrer gibt, als oft behauptet – und den wenigen Mutigen wird übel mitgespielt. Dabei hätte unsere Außenpolitik Gestaltungsmöglichkeiten, weil auch Bundeswehr vor Ort ist. Da hat man manchmal den Eindruck, die Grünen sorgen sich zu sehr um die deutschen Soldaten dort, statt um die Situation der Bevölkerung.

Wie erklären Sie sich, dass Politiker, die doch guten Willens waren, aus Ihrer Sicht zu wenig Einsatz zeigen?

Manche Leute resignieren in Verantwortung angesichts des Bergs von Verpflichtungen. Andere wie Fischer denken inzwischen mehr wie Kissinger oder Bismarck als wie amnesty international oder die Gesellschaft für bedrohte Völker. Beim Blick auf die geopolitische Großwetterlage und persönliche Freundschaften zu anderen Staatsmännern werden rasch Gelegenheiten übersehen, manche kleineren Konflikte anzugehen.

Die bisherige Grünen-Chefin Claudia Roth sucht nach einer neuen Rolle. Sollte sie in die Menschenrechtspolitik zurückkehren?

Ich würde das sehr begrüßen. Sie hat jetzt ja die Regierungsmaschinerie kennen gelernt, die oft gute Impulse erstickt. Sie weiß jetzt womöglich besser, wie man Wünschenswertes realisieren kann. INTERVIEW: PATRIK SCHWARZ