Versuch‘s mal mit Gemütlichkeit

Schaukelstühle sind mittlerweile weitgehend aus dem Sortiment der Einrichtungshäuser verschwunden. Dabei ist das Wippen im ruhigen Takt nicht nur für alte Menschen heilsam, sondern kann auch auf andere gestresste Gemüter entspannend wirken

Schon Präsident Abraham Lincoln besaß ein Modell des „Shaker“-Stuhls

von MICHAEL KASISKE

Unterm Christbaum möchte jeder Ruhe und Wohlgefallen haben. Leckeres essen, Gutes trinken, etwas Kribbelndes lesen oder gegebenenfalls auch hören – im Ergebnis kontemplativ und faul sein zu dürfen ist vielleicht das beste Geschenk, das man sich an den Feiertagen selber gönnen kann. Ist es ungewöhnlich, sich dabei an Schaukelstühle zu erinnern? Sich die zahlreichen Exemplare vor Augen zu führen, die zumindest für mich schon als Kind bei den Freunden von Oma oder Eltern der Inbegriff von „Nichtstun“ waren?

Offensichtlich ist, dass diese Gattung aus dem aktuellen Warenangebot inzwischen verschwunden ist. Gab es in den 1970er Jahren noch zahlreiche Holz- und Stahlrohrvarianten in zeitgenössischer Gestaltung zu kaufen, so ist das gemütliche Möbel nunmehr in Vergessenheit geraten. Selbst die traditionelle Produktion des Bugholz-Klassikers, den Michael Thonet Mitte des 19. Jahrhunderts entworfen hatte, wurde von seinen Nachkommen im Familienbetrieb Thonet eingestellt.

Dabei ist dieses Objekt fast das Sinnbild für den Schaukelstuhl der Neuzeit geworden: Die beiden Seiten bestehen aus über heißem Wasserdampf gebogenen Rundstäben aus Buche, deren Innerem mit kunstvoll verschnörkelten Stäben Stabilität verliehen wird. Dazwischen befinden sich zwei Rahmen aus viereckigen Profilen, die mit dem darüber gespannten Rohrgeflecht bequeme Sitzfläche und Rückenlehne ergeben. Zu hoch seien die Kosten heutzutage für die handwerklichen Anteile des typischen Manufakturprodukts. Wegen eines Jubiläums in limitierter Stückzahl erneut aufgelegt, ist die legendäre „No. 1“ der Schaukelstühle derzeit immerhin auf Anfrage lieferbar.

Schaukeln ist für Kinder so anregend, dass sie zuweilen nach hinten umzukippen drohen und sich gleichzeitig festhalten müssen, um nicht nach vorne hinausgeschleudert zu werden. Alte Menschen bevorzugen hingegen den ruhigen Takt – und der ist für sie sogar heilsam. Die Tests des amerikanischen Wissenschaftlers N. M. Watson und seiner Kollegen haben etwa ergeben, dass regelmäßiges Schaukeln schwer Demenzkranke beruhigt. Mehr noch: Zwischen der täglichen Dauer des Schaukelns und der Einnahme beruhigender Antidepressiva zeigte sich eine Wirkungsbeziehung, das heißt, die Dosis der Medikamente konnte gesenkt werden.

Watson sieht in der Schaukelstuhltherapie eine effektive, gesunde und nebenbei kostengünstige Methode, Demenzkranke körperlich zu trainieren und zu stimulieren. Seine Studie zeigt, dass es den Patienten oft gelang, sich ein bis zwei Stunden lang mit dem Stuhl zu bewegen. Eine solche Zeitspanne können nur noch wenige in diesem Alter auf zwei Beinen bewältigen. Während Kranke ansonsten einen eigenen Betreuer brauchen, um mit diesem gemeinsam zu gehen, können mehrere Schaukler in Rollstühlen zur gleichen Zeit durch ein und dieselbe Person betreut werden. Die ausgleichenden Effekte führen die Autoren übrigens auf die Stimulation des Gleichgewichtsorgans zurück wie auch die bei Kleinkindern geläufige beruhigende Wirkung des Schaukelns.

Tests haben ergeben, dass regelmäßiges Schaukeln Demenz-kranke beruhigt

Dieser einlullende Effekt ist schon früh erkannt worden. Der erste Schaukelstuhl lässt sich bereits in der Zeit der Pilgrim Fathers nachweisen, die ab 1620 in Massachusetts siedelten. Deshalb ist der „Shaker“-Schaukelstuhl der gleichnamigen Glaubensgemeinschaft zwar etwa zeitgleich mit dem von Thonet um 1860 in die endgültige Form gebracht worden, aber eigentlich der Urtyp schlechthin.

Die an der Ostküste siedelnde und für ihre spartanische Ästhetik bekannte protestantische Gemeinschaft hatte das Möbelstück schon früh in ihr Programm als Sitzstatt für Alte und Kranke, aber auch für Kinder aufgenommen. Laut Dennis Axer, der sowohl mit antiken als auch nachgebauten Shakermöbeln handelt, hat schon Präsident Abraham Lincoln ein Modell von den Shakern besessen. Wie alle ihre Möbelprodukte sollte der Schaukelstuhl nicht nur praktisch und bequem sein, sondern mit einem Gewicht von nur 2,5 Kilogramm auch leicht sein. Ebenfalls beabsichtigt ist der Verzicht auf individuellen Schmuck. „Ich möchte nicht als ein Möbel erinnert werden“, drückte ein Shaker seinen Wunsch nach Anonymität aus. Anders als die Amish People waren die Shaker sehr fortschrittlich orientiert und durchaus erfinderisch. Die Kreissäge geht auf sie genauso zurück wie die erste Möbelfabrik in Sabbethbay Lake in New Gloucester, in der Massenware hergestellt wurde. Verarbeitet wurden örtliche Holzarten, wie Ahorn, Kirsche, Nussbaum und Pinie. Sie wurden mit einem neutralen Firnis behandelt oder schlicht rot, blau, grün oder gelb gebeizt. Im Zeichen einer neuen Bescheidenheit haben die Shakermöbel Konjunktur und werden in Europa in Lizenz hergestellt.

Wer heute noch die Muße zum Schaukeln findet, orientiert sich mehr an den alten Typen. Von den im 20. Jahrhundert entworfenen Objekten sind nur noch wenige lieferbar. Auch den mehr einem Folterinstrument denn einem gemütlichen Sitzplatz gleichenden Schaukelstuhl, den Josef Hoffmann 1905 entworfen hat, gibt es nicht mehr im Handel zu kaufen. Das ist bedauerlich, schließlich war er einer der wenigen, an dem sich eine Verlängerung zum Hochlegen der Beine und Füße ausklappen ließ. Ein typisches Produkt der 1950er-Jahre ist der so genannte Strandstuhl des Schweizer Designers Willy Guhl. Die gebogene Form erinnert im Profil entfernt an den Thonet-Stuhl. Auffallend sind seine niedrige Sitzhöhe und die Herstellung aus einem Stück Faserzement. Unschwer, sich vorzustellen, wie eine Reihe züchtig gekleideter Damen und Herren am nierenförmigen Pool in diesen Stühlen gefällig wippte und dabei das Cocktailglas in Balance hielt. Die Entdeckung des Asbests hat in diesem Material zu einem Aussetzen der Produktion geführt. Inzwischen ist der Stoff jedoch aus dem Eternit eliminiert, und der „Strandstuhl“ erfreut sich neuer Popularität. Eine jüngeren Designgeneration gehört der „re-tire“ des Berliner Designbüros e27 an. Das Vorbild für den Stuhl war ein Fundstück, das kurzerhand auf Kufen gestellt wurde. Die sparsame Form entwickelte sich durch die grazilen Rundrohre aus Metall, die in verschiedenen Ausführungen lieferbar sind, zu einem edel wirkenden Schaukelstuhl. Bei Bedarf lässt sich eine Kinderwiege anbringen, sodass Betreuer und Baby im Gleichtakt schaukeln können. Der Wunsch nach Harmonie macht Weihnachten zur einzigen Zeit im Jahr, in der man ohne Ressentiments gegen diese oft an die Enge des elterlichen Zuhauses erinnernden Werte über Wärme und Geborgenheit nachdenkt. Die „neue Gemütlichkeit“ nannte es Fax Quintus von e27 einmal, die für ihn der geläufigen Küchenatmosphäre ähnelt: Dort ist man gern, dort kann man sich fallen lassen, dort bleibt man von Blicken unbelästigt. In diesem Sinn mag für die bevorstehenden Feiertage das Motto des Bären Balu gelten: „Versuch’s mal mit Gemütlichkeit, dann wirfst du den Alltag über Bord.“

Thonet, Michael-Thonet-Straße 7, 35066 Frankenberg, Tel. (0 64 51) 50 81 90; www.thonet.de. Shakermöbel über Dennis Axer, Tel. (0172) 9 37 03 35, www.shaker-moebel.de; „Strandstuhl“ von Eternit z. B. bei modus, Wielandstraße 27–28, 10707 Berlin-Charlottenburg: re-tire über e27, www.e27.com