Im Hades des Theaters

Tradierte Worte, überlieferte Gesten, ständig variierte Bewegungen: Das Théâtre du Radeau aus Le Mans steigt bei seinen Gastspielen auf Kampnagel mit „Les Cantates“ tief ins Gedächtnis theatraler Verabredungen hinab. Und bietet eine wunderbar zusammenhanglose Geschichte

Die Bühne ist gewaltig, geht in die Tiefe, wird zum Raum der Geschichte. Riesige lange Tische auf rostigen Stahlbeinen stehen quer, mit Pergament bezogene Stellwände kreuzen die Durchsicht und begrenzen den bespielten Ort. Die Bühne ist ein Lager, in dem theatrale Verabredungen aufeinander treffen, um aufgelöst zu werden.

Die Bühne des Théâtre du Radeau, das derzeit auf Kampnagel gastiert, ist ein Raum, der lebt. Aber die beiden alten Männer am Tisch scheinen tot. Nein – einer durchschreitet das Lager, kommt an den Bühnenrand und deklamiert. Mit erhobenen, zitternden Armen. Auf Französisch. Opern-Musik schwingt dazu, übertönt die Worte des Alten. Es bleibt die Geste, die Haltung eines verzweifelten Helden. Was es wahrzunehmen gilt, sind alle Einzelheiten, die Theater ausmachen. Deren Zusammenspiel versucht Francois Tanguy mit den sieben Schauspielern des Théâtre du Radeau zu präsentieren.

Mit ihren Körpern, ihrer Aussprache, den Texten von Dante, Plutarch, Hölderlin, Rilke, Nietzsche, Vergil und Tasso – der Bühne, dem Licht, und der Musik nimmt das Ensemble die Zuschauer mit auf eine faszinierende Reise ins fremd-bekannte Land der Theater-Essenz. Wer es als zuschauender Mitreisender schafft, sich von der Vorstellung zu befreien, eine Geschichte entdecken zu wollen, wird mit wunderbar irritierendem Theater belohnt.

Das Stück Les Cantates, das auf Kampnagel seine Deutschlandpremiere hatte, ist ohne konkrete Handlung. Ein radikaler Bruch mit Verabredungen, ein Zweifel an der Bedeutung der Sprache durchdringt die Inszenierung. Durchsetzt ist das Ganze von Anspielungen, Zitaten, Figuren des antiken und des barocken Theaters, der Commedia dell‘Arte.

Dazu ist alles in Bewegung: Kulissen wandern durchs Bild, Tische werden verschoben, Gestalten gehen auf und ab. Auf einem langsam abgespulten Film rollen Szenen vorbei, in denen immer der Tod anwesend ist.

Das Théâtre du Radeau ist seit Anfang der 80er Jahre in Le Mans zu Hause, wo es eine alte Renault-Produktionsstätte zu einer Theaterfabrik umgebaut hat. Radeau bedeutet Floß, und entsprechend zog die Gruppe weiter, um am Stadtrand in einer mobilen Stätte, einem großen weißen Zelt, zu arbeiten. Vielleicht braucht das Theater besondere Orte, um seine Traditionen auszukochen und einen hochkonzentrierten neuen Sud zu gewinnen. Lisa Monk

weitere Vorstellungen: 5.-7. Dezember, jeweils 20 Uhr, Kampnagel