Alle wollen eine Mauer bauen

Deutschland im Jahr 2042: Ein Rückblick auf vierzig Jahre chinesische Lösung

„Wer beitritt, kann ja auch wieder austreten“, flachste Schröder in die Mikrofone

Rückblickend ist man schlauer. Als Berliner von vornherein. Die etwas helleren Zeitgenossen hatten die Alarmzeichen im den trüben Novembertagen des Jahres 2002 längst erkannt. Als die jüngsten Trends der Berlinabwanderung veröffentlicht wurden, waren es mehr als 30.000 Menschen per annum, die aus der Stadt flohen. Als dann auch noch der Bürgermeisterkandidat der heute längst vergessenen CDU, der Frohnauer Frank „Kennedy“ Steffel, von seiner Partei über Nacht aus dem Rennen gezogen und nach München strafversetzt wurde, wusste auch der letzte Schrebergärtner, dass die lustigen Tage der Hauptstadt gezählt waren.

Die bewährte berlinische Dramaturgie konnte jetzt zum Zuge kommen: spalten und verscherbeln. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde von seinem Superminister Wolfgang Clement und dem späteren Bundeskanzler Roland Koch in seiner „Waschmaschine“ (eine letzte Wortschöpfung der gefürchteten Berliner Schnauze für das neue Kanzleramt) in die Mangel genommen, den alten Hongkong-Plan zu reaktivieren. In einer dramatisch verschwitzten Fernsehansprache aus dem italienischen Montepulciano versprach der leutselige Schröder den „Menschen zwischen Elbe und Oder“, dass nur die rasche Umsetzung des fast vergessenen Modrow-Kowloon-Projektes Rettung verhieß.

Zur Erinnerung: Im Frühjahr 1990 war eine hochrangige Delegation von Bankern aus Hongkong beim damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, vorstellig geworden, um einen Deal vorzuschlagen: Entschuldung des Staatshaushalts der DDR, das bedeutete 50 Milliarden Hongkong-Dollar auf den Tisch des Hauses – im Gegenzug sollte Hongkong eine territoriale Garantie über freien Zugang zu den Hafenstädten Wismar, Rostock und Stralsund plus den Zuzug von mindestens 500.000 Chinesen erhalten. Dieser kühne Plan war 1990 gescheitert, weil er seiner Zeit einfach zu weit voraus war.

Im Jahr 2002 aber, als die extreme Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation, die totale Pleite der Staatsfinanzen und die drohende Übernahme Mecklenburgs und Brandenburgs durch die bald im EU-Verbund agierenden Polen unausweichlich schien, entschloss sich die rot-grüne Regierung zum Äußersten und stieß, mit voller Rückendeckung der westlichen Bundesländer, die ehemaligen Beitrittsgebiete einfach wieder ab. „Wer beitritt, kann ja auch wieder austreten“, flachste Gerhard Schröder mit seinem Feriennachbarn Silvio Berlusconi nach seiner Fernsehansprache in die versehentlich noch eingeschalteten Mikrofone.

Die praktische Durchführung dieser Flurbereinigung wurde durch einen erneuten chinesischen Vorschlag erleichtert: „Unfassbar!!“, heuchelte Bild am Tag nach der italienischen Rede des Kanzlers, „China besteht auf Mauer!“ Tatsächlich hatten die Chinesen, in konsequenter Auslegung des alten Modrow-Plans, auf dem „alten Mauerverlauf“ bestanden, unter anderem auch deshalb, um dem „ersten Schub“ von 500.000 Einwanderern ein Minimum an Heimatgefühl zu vermitteln. Den in den leeren Ländern freiwillig Verbliebenen Ostberlinern, Vorpommern und Altmärkern (insgesamt 200.000 Einwohner) wurden eine Arbeitsplatzgarantie und feste Rente in Aussicht gestellt.

Unter reger Anteilnahme beider Seiten wurde schließlich eine Mauer nach chinesischem Vorbild errichtet – sie war wesentlich höher und breiter als der alte Ulbricht-Schutzwall. Von so genannten Grenzzwischenfällen ist in den vergangenen vierzig Jahren nichts bekannt geworden.

Die alte Teilung Deutschlands, wie sie von den Staufern und Welfen begründet und von geopolitischen Vordenkern immer wieder gefordert worden war, hatte sich endlich auf friedliche Weise durchsetzen können.

Wie wir heute wissen, ist diese damals recht turbulente Transaktion insgesamt recht erfolgreich verlaufen, nicht zuletzt dank zahlreicher spontaner „Rückgaben“ aus der Bevölkerung: die Spenden von ehemaligen Mauersouvenirs waren so zahlreich, dass man davon mühelos zwei neue Mauern hätte bauen können. HANNS ZISCHLER