Nichts als Phantomdebatten

Sigrid Löffler redete im Oldenburger PFL über Bücherflut, Hitlisten und KritikerInnen. Und, was Wunder: Besonders viele Ohrfeigen gab’s für die Literaturkritik im Fernsehen

Überall „Häppchenleser, die durch Bücher zappen wie durch Fernsehprogramme“

„Die Moderne leidet an Orientierungslosigkeit: Meine Studenten zum Beispiel kennen nicht mehr den Unterschied zwischen Küchen und Seminarräumen. Morgens um zehn bringen sie Mineralwasser und Brötchen mit in die Uni“, meint der vor zwei Jahren eremitierte Germanist Joachim Dyck zur Einleitung des Abends.

Ebenso ohne Orientierung sieht Stargast Sigrid Löffler die LeserInnen in Anbetracht einer Flut von jährlich 90 000 Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt. Und da will die 60-jährige Chefredakteurin der Zeitschrift „Literaturen“ Abhilfe verschaffen.

Der schnelllebige Zeitgeist geht Löffler gegen den Strich, vor allem, wenn’s um Literatur geht: „Bücher werden sofort besprochen, wenn sie auf den Markt kommen. Es gibt einen kollektiven simultanen Marktschrei der Kritik, vom Buchhandel eingeleitet.“ Sie beobachtet „Häppchenleser, die durch Bücher zappen wie durch Fernsehprogramme“ – eine weit verbreitete Oberflächlichkeit im Umgang mit Literatur.

Das gilt auch für die Kritik: „Die Kritiker lassen sich keine Zeit für ein Buch. Es gibt keine Debatten mehr untereinander“, fehlt ihr die interne Auseinandersetzung. Löfflers Kommentar zur Diskussion um Walsers „Tod eines Kritikers“: „Das war ein Lehrstück über Buchkritik, die das Buch nicht einmal gelesen hat. Eine Phantomdebatte.“

Stattdessen gibt es geschmäcklerische Hitlisten, die sie nerven: „Kritiker erklären ihre Lieblingsbücher zum Dogma und nutzen ein leichtgläubiges, desorientiertes Publikum aus. Persönliche Vorlieben sind zu wenig für einen Kanon“, meint sie. „Ein Kanon muss gesellschaftlich verbindlich sein. Diese Verbindlichkeit ist nicht gegeben. Denn die Gesellschaft zerfällt in Kleinmilieus, die ihre Kriterien jeweils danach aufstellen, was sie für ihren Kreis für verbindlich halten.“ Das klassische Bildungsbürgertum hätte an Einfluss verloren, sei nur noch eine von vielen Sparten. Die Wissenschaft ziehe sich zurück, die Kritik verliere mit der Qualität an Bedeutung, erläuterte Löffler. Strukturwandel, allenthalben.

Dagegen fordert Löffler ästhetische Maßstäbe für die Kritik, die Kritiker könnten, die „Ironie bei Thomas Mann, Plauderei bei Fontane, Metaphysik bei Kafka“ lernen. „Im Moment ersetzt der allmächtige Verbraucher die ästhetische Debatte der Kritik“, bedauert sie. Und da sich der Kreis „ansprechbarer Leser“ in diesem Land auf zehn Prozent beschränke, schießen die meisten Kritiken in hohem Bogen am Ziel der Ästhetik vorbei.

„Bücher sind nicht als Massenspektakel inszenierbar“, findet sie. Was aber hat sie im „Literarischen Quartett“ anderes gemacht? Genügte die Sendung den ästhetischen Maßstäben, die sie heute fordert? Oder war es, wie Kritiker seinerzeit äußerten, plakativ und geschmäcklerisch? „Ach, ich bitte Sie, das ist doch so lange her. Die Kritik kam immer von Leuten, die nicht eingeladen oder schlecht behandelt wurden. Das ist alles Schnee von vorvorgestern“. Aha.

Im Nachhinein also eine kräftige Distanzierung von den markigen Urteilen auf der Fernsehbühne, denn: „Die lesenden Köpfe lesen,die gucken nicht fern.“ Für dieses Klientel steht sie mit ihrer Zeitschrift. Allen anderen empfiehlt Löffler frei nach Shakespeare:

„Lesen Sie was sie wollen.“

Lutz Steinbrück