Die Kasse muss stimmen

Alex Ross, ein amerikanischer Musikkritiker in Berlin, rüttelt heftig an den Konventionen deutscher Musikrezeption

In der American Academy am Wannsee würden vermutlich niemals hitzige Diskussionen ausbrechen, dazu ist man hier viel zu vornehm. Fruchtbringende Gespräche geraten angesichts der schicken Repräsentations- und Networkarbeit, die in einem solchen Umfeld auch getan sein will, hin und wieder in den Hintergrund. Nur manchmal, wenn im Anschluss an einen Vortrag oder ein Podiumsgespräch hartnäckige Rückfragen aus dem mit Deutschen und Amerikanern gleichermaßen besetzten Publikum kommen, ist sogar in den Hallen der American Academy ganz zart zu erfühlen, wie schwierig die Völkerverständigung sein kann. Dann entsteht in diesem Schutzraum ein angenehm kontroverses Klima, in dem sich auch schwierige Fragen besprechen lassen.

Zum Beispiel die nach einer fortschrittlichen Musik, als der amerikanische Musikkritiker Alex Ross in der American Academy an der liebsten Vorstellung deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler rührte: dass Arnold Schönberg nicht nur der Erfinder der Zwölftontechnik, sondern auch der absolute Held der Moderne sei. Schönberg forever, Tonalität ade, halten viele zeitgenössische Komponisten einem Publikum entgegen, das sich die Zwölftonmusik und ihre Nachfolge, die Musik des (Post-) Serialismus und des Komplexismus noch immer nicht so richtig gern anhört.

Alex Ross vom New Yorker nun erlaubte sich, auf ein paar verwandte Fragen hinzuweisen und Salz in die Wunden der irgendwie noch immer kriegsversehrten Szene zu streuen: Schönbergs Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum der Kompromisslosigkeit Hitlers ähnlich? Die Verknüpfung des Emigranten Schönberg mit der Demokratie, des tonal komponierenden Richard Strauss mit den Nazis und allgemeiner Rückschrittlichkeit zu kurz gegriffen? Die Frage nach einer historischen Weggabelung, an der sich die echte von der falschen Sorte Musik trennt, falsch? Stattdessen ein Plädoyer für Publikumsnähe, Milde und Kompromissbereitschaft? Das machte Schmerzen. Man müsse, sagte der in Amerika lehrende Komparatist Andreas Huyssen, mit dem Begriff des „Totalitarismus“ vorsichtiger umgehen. Auch Bach und Beethoven, warf der Musikjournalist Clemens Goldberg ein, hatten einen schweren Stand beim Publikum.

Dass Alex Ross, 34, ausgebildet an der Harvard University, so heftig an der Hierarchisierung der Kompositionspraxis rüttelt, hat nicht nur mit seinem Argwohn gegenüber der „exzessiven Verehrung“ Arnold Schönbergs zu tun. Ross spricht als Vertreter einer Kultur, in der klassische Musik einen relativ marginalen Stellenwert hat. Statt eines Subventionssystems wie in Deutschland ist sie gezwungen, private Geldgeber heranzuziehen.

In Amerika, sagt Ross im Gespräch am nächsten Morgen, gehöre die klassische Musik nicht zur Mainstream-Kultur – „wir müssen schon dafür kämpfen, dass sie nicht ausstirbt“. Da trage man für das Publikum eine besondere Verantwortung, ein Rest von Zugänglichkeit sollte einfach sein. Und dass bei all dem die Kasse stimmen muss, sagt Ross in einem Anflug europäischer Geschichtsverliebtheit, habe schon Verdi gefunden.

Ross hat früh damit angefangen, klassische Musik zu hören. Als Student hat er eine eigene Radiosendung betreut und dabei auch langsam in andere Musikrichtungen hineingeschmeckt. Anfang der Neunzigerjahre schrieb er die ersten Musikkritiken für die New York Times, 1996 ist er zum New Yorker gekommen. „Intelligent, aber darum nicht gleich intellektuell“, sagt Ross über das noble Magazin, das wöchentlich erscheint und etwa eine Million Abonnenten hat.

Längst schreibt Ross dort auch über Rockmusik, über Bob Dylan oder Radiohead. Noch immer steigt er vielleicht gerade auch deshalb in seine E-Musik-Texte ganz unverkrampft ein, nennt hier Vivaldi den Lieblingskomponisten der Coffee-Shops, widmet sich dort den Nachwehen des 11. September und dem veränderten Musikgeschmack, den er hervorrief. Unaggressiv, sehr methodisch, auf ganz eigene Weise rhythmisch seien die Artikel des New Yorker; man schreibe für einen intelligenten Leser, gehe aber nicht von dessen Vorbildung in Kunst- und Musikgeschichte, Politik oder Naturwissenschaft aus.

Das unterscheidet den New Yorker oft von hiesigen Feuilletons, die ihre Leser gern mit Bildungsballast erschrecken. Alex Ross freilich schaut darauf ebenso milde und entspannt, wie er auch die Unterschiede in der deutschen und amerikanischen Diskussion über Neue Musik benennt. Bis zum Dezember wird er hier in Berlin sein und an seinem Buch über die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts schreiben. CHRISTIANE TEWINKEL