Aufgeblasener Herrenwitz

Das Konzept der „großen Samstagabendshow“ hat sich längst überlebt. Mit „Wetten, dass …?!“ jedoch lebt das Phänomen fort – und kämpft auf verlorenem Posten um Relevanz (20.15 Uhr, ZDF)

von CLEMENS NIEDENTHAL

In keinem anderen Moment war die junge, stolze Bundesrepublik so ganz und gar mit sich selbst identisch wie am öffentlich-rechtlichen Samstagabend. Zu Hause vor dem Fernsehapparat bei Schnittchen und Knabberzeug. Zu Hause zwischen „Sportschau“ und Showtreppe. Zwischen Ernst Huberty, Heinz Schenk und einem grob karierten Peter Frankenfeld.

Sicher kannte die Bundesrepublik auch andere identitätsstiftende Orte. Die Autowäsche gehörte dazu. Eine cholesterinhaltige Küche oder die neuen, gleichförmigen Eigenheimsiedlungen. Vor dem Fernseher jedoch verdoppelte sich Samstag für Samstag der private Traum vom kleinen Glück. Vor dem Fernseher wurde die Familie nachhaltig von sich selbst überzeugt.

Wahrscheinlich konnte sich das Fernsehen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren so selbstverständlich im kollektiven Leben einer Nation einnisten, weil es eben nicht nur den Blick in die große Welt suggerierte, sondern die Zuschauer gleichzeitig in den Innenansichten ihrer eigenen kleinen Welt bestätigte. Anders gesagt: Der Fernsehapparat war weniger ein Fernglas denn ein Spiegel. Ein Spiegel bundesrepublikanischer Befindlichkeiten, der zudem die durch kein optisches Gesetz zu erklärende Eigenschaft besaß, gesellschaftliche Widersprüche mühelos auszublenden. Fortan wurde das Fernsehbild zum Gesellschaftsbild. Ein patriarchalisch organisiertes Nachkriegsdeutschland fand seine mediale Entsprechung in den großen Unterhaltungsshows der Sechzigerjahre. „Am laufenden Band“ und „Der blaue Bock“ etwa. Und natürlich „Einer wird gewinnen“.

Denn vor allem dies war ja ein Hans Joachim Kulenkampff: ein medial inszenierter Übervater, dessen Quizkandidaten immer höchstens so viel wissen durften wie Kulenkampff selbst. In seinem „Einer wird gewinnen“- Studio war er von 1964 an in erster Linie Hausherr, weniger Gastgeber. Und während draußen auf der Straße Büstenhalter verbrannt und männliche Herrschaftsansprüche in Frage gestellt wurden, blieb der „Kuli“ in der Flimmerkiste die chauvinistische Kontinuitätsmaschine. Seinen voyeuristischen Blicken folgend, verlor sich sein männliches Publikum im Ausschnitt der jungen, internationalen Kandidatinnen. Blondinen aus Schweden, Dunkelhaarige aus dem Mittelmeerraum.

Die öffentlich-rechtliche Samstagabendunterhaltung war also – und das bereits vor der softpornografischen Erneuerung des Fernsehalltags in den Siebzigerjahren – immer auch ein zur neunzigminütigen Unterhaltungssendung aufgeblasener Herrenwitz. Nur dass damals Anfassen eben noch nicht erlaubt war. Eine Grenze, die Thomas Gottschalk schon lange überschritten hat, was nicht nur Eisschnelllauf-Sternchen Annie Friesinger im vergangenen Frühjahr am buchstäblich eigenen Leib erfuhr. In „Wetten, dass …?!“ bekommen die frivolen Klischees eine handfeste Dimension. Vielleicht ist das auch der Grund, warum das ZDF in den Trailern für die heutige Sendung von „erhöhten Sicherheitsvorkehrungen für die weiblichen Zuschauer“ spricht.

Und doch war die Wahl von Thomas Gottschalk zum Moderator mehr als nur die konsequente Weiterentwicklung eines erfolgreichen Programmformats. Sie war auch Modernisierungsversuch und Indiz einer tiefen Krise der Generationen übergreifenden Fernsehunterhaltung zugleich. Der flapsige Thommy, der alerte Berufsjugendliche in Jeans und Turnschuhen sollte ab 1987 deutsches Liedgut mit englisch gesungenen Hits versöhnen. Er sollte die Helden der Großmütter mit den Idolen der Teenies vereinen – und wohl für ein letztes Mal zusammenführen, was sich in einer komplexer werdenden Gesellschaft längst geschieden hatte: die Generationen, die Lebensstile, die Weltanschauungen. Ja, mehr noch: die Nation.

Die großen Samstagabendshows waren, mit Alexander Mitscherlich gesprochen, Fernsehen für eine nivellierte Mittelschicht. Sie wurden gerade deshalb zum Fernsehen für alle, weil sich, wenn schon nicht alle, so doch zumindest ziemlich viele in ein solch gemeinschaftstiftendes Angebot hineingesehnt hatten. Das viel zitierte Patchwork der Lebensstile evozierte hingegen spätestens mit der Niederkunft des Privatfernsehens auch ein Patchwork der Mediennutzung.

Von einer absoluten Quotenhoheit, einst so etwas wie das konstituierende Moment des öffentlich-rechtlichen Samstagabends, konnte fortan auch „Wetten, dass …?!“ nurmehr träumen. Da halfen auch keine Außenwetten, die „Wetten, dass …?!“ hinaus zum untreuen Publikum tragen sollten. Da halfen keine Viva-Moderatorinnen (Jessica Schwarz) für die Jugend und keine Comedians (Olli Dittrich) für die Spaßgesellschaft, die Thomas Gottschalk später zur Seite gestellt wurden. Da half nur der zotige Boulevarddiskurs, der Slip von Sarah Connor.

Ein wenig ähnelt Gottschalks in den zurückliegenden „Wetten, dass …?!“-Folgen zunehmend zudringlicher Gestus der latenten Aggressivität eines Friedrich Merz. Und er scheint ähnlich motiviert. Beide, Merz wie Gottschalk, agieren aus Sorge um ihre eigene Relevanz. Aus der Angst, vom Volk nicht (mehr) geliebt zu werden. Denn da geht es der CDU wie den großen Unterhaltungsshows – dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten weitreichend gewandelt hat, haben sie zuletzt mitbekommen.

Aber vielleicht wird davon ja Doris Schröder-Köpf erzählen. Die Kanzlergattin sitzt heute Abend – neben Karl Lagerfeld, Ben Becker, Otto Sander und Michelle Hunziker – bei Gottschalk auf dem Sofa. Vor dem Fernseher sitzt derweil nicht mehr die ganze Nation. Wenigstens aber Grönemeyer-, Pink- und Bon-Jovi-Fans. Denn zumindest was die Chartsnotierungen der musikalischen Gäste betrifft ist „Wetten, dass …?“ immer noch ein Hit.