Natürlich selbst gemacht – das Kreativlädchen

Von Häkelgarnen, Schulorchestern und der Kunst des Selbermachens

Erst hieß der Laden noch Bastelparadies. Er lag in der Fußgängerzone, zwischen dem Süßen Kaufhaus und der Sparkasse. Hier gab es, wie der Name schon sagte, ausschließlich und in großer Auswahl Material und Zubehör zu kaufen, das man beim Basteln, Handarbeiten oder ähnlichen Beschäftigungen benötigte: Häkelgarn und Strickwolle, Tonpapier und Wellpappe, Modelliermasse, Farben und Pinsel. Das war der Grundbestand, zusammen mit Schnittmusterbögen und einem Drehständer mit dünnen Büchern, in denen neue Hobbytrends und originelle Partydekorationen vorgestellt wurden.

Mit jedem neuen Trend gelangten neue Materialien in die Auslagen des Bastelparadieses: Auf die verschiedenfarbigen Fäden, die man für Makrameearbeiten brauchte, folgten die hölzernen Frühstücksbrettchen, in die man mit einer Art Lötkolben Muster und Namenszüge hineinbrennen konnte, und kurz darauf kamen dann die Farben für die Glasmalerei. Ab November hing im Schaufenster Adventsschmuck, und im Frühjahr, wenn die Hochzeiten stattfanden, konnte man sich im Laden über die neuesten Techniken zur Herstellung von künstlichen Blumen aus Krepppapier informieren.

Kerstins Mutter, die halbtags als Sekretärin in der AOK-Filiale arbeitete, gehörte zu den langjährigen Kundinnen im Bastelparadies. Aufmerksam verfolgte sie die wechselnden Moden, nahm an Einführungskursen in neue Techniken teil, die die Besitzerin des Ladens gelegentlich anbot, und vertiefte an der Volkshochschule ihre Fertigkeiten im Töpfern und in der Handarbeit. Ihre Familie trug selbst gestrickte Socken und Pullover, und ihre Verwandten konnten längst mehr als nur ein Haus mit kunstvoll bemalten Kacheln, Gestecken aus Trockenblumen und Wandteppichen dekorieren. Auch im Bekanntenkreis verschenkte Kerstins Mutter die Produkte ihrer jeweils neuesten Leidenschaft. Da die meisten ihrer Freundinnen ähnliche Neigungen hatten, kam es zu einem regen Tauschverkehr von unnützen, aber selbstverständlich liebevoll verfertigten Gegenständen.

Zusammen mit dem Baumarkt im Gewerbegebiet war das Bastelparadies nicht nur die Grundlage dafür, dass es in unserer Stadt nie langweilig wurde. Während die Kulisse der kleinen Städte mit ihren Tankstellen, Videotheken und Sonnenstudios in den Achtzigerjahren immer künstlicher und austauschbarer wurde und die Neubaugebiete ein Dorf nach dem anderen eingemeindeten, versicherte man sich mit Hilfe des Bastelladens weiterhin im Kleinen der Originalität der Welt: „Selbst gemacht?“ – „Selbst gemacht.“

Dieses Vertrauen in die eigenen schöpferischen Kräfte wurde im Kindergarten und in der Grundschule an die nachwachsende Generation weitergegeben. Kerstin – „ganz die Mutter“ – gehörte zunächst auch in der Schule zu den Eifrigsten, was das Basteln anging. Sie schnitt Muster in Karton und klebte farbiges Seidenpapier dahinter, formte Tierfiguren aus Salzteig und töpferte Aschenbecher und Kerzenständer. Erst als sie auf das Gymnasium kam, legte sich ihre Begeisterung für diese Art von Bastelarbeiten.

1985 erlaubte sich die trendbewusste Besitzerin des Bastelparadieses ein größeres Zugeständnis an den Zeitgeist und benannte ihr Geschäft in Kreativlädchen um. Im gleichen Jahr begann Kerstins Mutter, sich mit Seidenmalerei zu beschäftigen und stieg für einige Monate in die Produktion von rötlich-blauen Halstüchern ein – während Kerstin ihr eigenes kreatives Potenzial entdeckte. Das Evangelische Bildungswerk hatte in einem Seminarhaus ganz in der Nähe einen „Schnupperkurs Rhetorik“ angeboten, und weil sie als Klassensprecherin dafür zwei Tage schulfrei bekam, meldete sich Kerstin an.

Zusammen mit fünfzehn anderen Klassensprechern, die aus den Schulen der Umgebung kamen, erfuhr sie so erstaunliche Dinge wie zum Beispiel die Tatsache, dass die Körpersprache mehr über einen Redner sagt als seine Worte oder dass man seine Argumente, wenn sie überzeugend wirken sollen, immer schön strukturieren muss. „Ihr müsst euch gut verkaufen, das ist der ganze Trick“, sagte der Seminarleiter, ein jugendlich wirkender Enddreißiger, der eigentlich mal Lehrer werden wollte.

Kerstin hatte bisher noch keine Rede gehalten und würde auch in nächster Zeit keine halten müssen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, auf dem Rhetorikseminar etwas Entscheidendes gelernt zu haben: dass es nämlich Wichtigeres zu formen gab als Salzteig, Ton und Modelliermasse. Zum Beispiel ihre eigene Zukunft. Mit den Fertigkeiten, wie ihre Mutter sie beständig neu erlernte oder verbesserte, würde sie nichts anderes erreichen, als irgendwann zum aktiven Teil des großen Bastelparadieses Provinz zu werden.

Kerstin war alt genug, um zu wissen, dass der attraktivere Teil der Welt außerhalb der Grenzen dieses Paradieses lag. Und dort würde sie sich, wie der Seminarleiter es ausgedrückt hatte, eben gut verkaufen müssen.

Also begann Kerstin ihren eigenen, gerade im Entstehen begriffenen Lebenslauf mit allerlei verkaufsfördernden Aktivitäten auszuschmücken. Sie tat das mit der gleichen Ausdauer, mit der ihre Mutter sich für immer neue dekorative Basteltechniken begeistern konnte.

Die Bedingungen dafür hätten besser nicht sein können. Ein dichtes Netz aus Seminarhäusern in kirchlicher Trägerschaft, gewerkschaftlichen Fortbildungszentren und Parteistiftungen überzog die Provinz und vereinte sich mit den Angeboten der amtlichen Jugendpflege zu einem breiten Spektrum an Möglichkeiten. Zwischen dem Wochenendseminar „Dein Recht als Schüler“ und dem Diskussionsabend „Rechtsradikalismus – Wie reagieren wir?“ im Jugendzentrum einer benachbarten Stadt war jede Menge Platz für Fortbildung und Kreativität. Auf die „Schnupperkurse“ in Rhetorik oder Ethik folgten die Theaterwerkstätten und Videowerkstätten – und schon die Titel dieser Veranstaltungen wiesen auf die Ernsthaftigkeit des gesamten Unternehmens hin: Es ging weniger darum, eine Theaterrolle einzustudieren oder einen verwackelten Videofilm zu produzieren, als darum, das eigene Ich wie ein Werkstück zu formen.

Das reichhaltige Angebot an Kreativwerkstätten und Fortbildungsseminaren für junge Leute ging nicht zuletzt auf die Anstrengungen zurück, die in den Siebzigerjahren im Zeichen des gesellschaftlichen Engagements unternommen worden waren. Damals hatte sich die Forderung nach Chancengleichheit und Bildung mit der Auffassung ergänzt, dass jeder Mensch ein kreatives Wesen sei – und gerade in der vermeintlich rückständigen Provinz wollte man nun „etwas bewegen“.

Von dem gesellschaftlichen Engagement war allerdings bei den meisten Mitarbeitern der Jugendpflege und anderer Einrichtungen inzwischen nur noch wenig übrig geblieben – und ihrer Klientel, den Jugendlichen, ging es ganz ab. Sie waren Aktivisten in eigener Sache geworden, die in der von älteren Brüdern und Schwestern modernisierten Provinz die besten Ausgangsbedingungen fanden: Aus dem verpuzzelten Bastelparadies der Provinz war ein modernes und weltoffenes Kreativlädchen geworden, in dem man sich in Ruhe die Schnittmuster für ein anderes Leben aussuchen konnte.

Kerstin war damit so beschäftigt, dass sie zuletzt für die Schule nicht mehr besonders viel Zeit aufbrachte. Auch das wusste sie zu nutzen. Zuletzt hatte sie sich in Englisch so sehr verschlechtert, dass ihre Eltern ihr bereitwillig ein Jahr Schüleraustausch in den USA bezahlten. Kerstin verbrachte ein Jahr in einer Kleinstadt im Mittleren Westen. Als sie zurückkam, hatte sie im Gepäck ein Buch über die Herstellung amerikanischer Patchworkdecken, das sie ihrer Mutter schenkte, und eine in den Vereinigten Staaten zur Vollendung gereifte Zielstrebigkeit: „If you really want to do it …“

Mit neuem Elan nahm sie ihre Arbeit als Aktivistin wieder auf. Sie ließ sich noch im selben Jahr zur Schülersprecherin wählen, belebte die Schülerzeitung, die vor einiger Zeit eingeschlafen war, neu und wandte sich dann den verschiedenen Gremien zu, mit denen junge Leute an den Verwaltungsentscheidungen auf kommunaler Ebene beteiligt werden sollten.

Kerstin wurde Mitglied im Stadtschülerrat und im Kreisschülerrat. Da sie keine besondere Vorstellung davon hatte, was für Interessen sie dort vertreten sollte, störte sie sich nicht daran, dass bei den Sitzungen nie etwas Konkretes herauskam. Dafür war sie immer dabei, wenn es darum ging, eine neue Arbeitsgruppe einzurichten oder stundenlang über die organisatorischen Details der nächsten Zusammenkunft zu reden und schließlich alle Beteiligten auf ihre Vorschläge einzuschwören: Überzeugend aufzutreten hatte sie inzwischen gelernt, und es machte ihr Spaß, sich davon immer wieder selbst zu überzeugen.

Niemand wusste, was Kerstin eigentlich genau die ganze Zeit machte, aber ihre Aktivitäten brachten ihr den Ruf einer Organisatorin ein, oder wie man jetzt sagte: einer Macherin. Das verhalf ihr immerhin zu ihrer zweiten Reise nach Übersee: Obwohl sie nachweislich kein einziges Instrument spielen konnte, gelang es ihr, als „Betreuerin“ ohne genauer definierte Aufgabe an einer Konzertreise des Schulorchesters nach New York teilzunehmen. Kurz darauf meldete sich Kerstin zu ihrem vorerst letzten Seminar in der Provinz an: „Erfolgreicher Einstieg in das Studium“.

Im gleichen Jahr machte sie das Abitur und verließ umgehend die Stadt. Während ihres Studiums der Publizistik, Germanistik und Politikwissenschaft in Hamburg war sie hauptsächlich damit beschäftigt, Praktika zu absolvieren. Ab und zu fuhr sie nach Hause und musste dann die neuesten Kreationen ihrer Mutter bewundern.

Selbst bemalte Blumentöpfe aus Terrakotta lagen Mitte der Neunzigerjahre sehr im Trend, und Kerstin ertappte sich bei dem Gedanken, dass sich der eine oder andere bunte Topf neben den weißen Leinenvorhängen auf der Fensterbank in ihrer schlicht eingerichteten Altbau-WG ganz gut machen würde.

Nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte, belegte Kerstin einen Aufbaustudiengang Kulturmanagement in Berlin und begann ein dichtes Netzwerk von Beziehungen zu knüpfen, dessen filigrane Struktur es mit den Makrameearbeiten ihrer Mutter hätte aufnehmen können. Bei ihren Bewerbungen war ihr dieses Netzwerk durchaus nützlich, und heute arbeitet Kerstin in der PR-Abteilung eines großen Medienunternehmens.

Neuerdings denkt sie daran, sich beruflich zu verändern. Nicht dass ihr die Arbeit nicht gefällt, aber man kann schließlich nicht jahrelang das Gleiche machen. Also stellt sie gerade wieder einmal einen Stapel von Bewerbungsunterlagen zusammen.

Der Blick auf einen Computerausdruck ihres Lebenslaufs hinterlässt wie jedes Mal ein Gefühl der Zufriedenheit in ihr: „Selbst gemacht?“ – „Selbst gemacht.“