Im Reich des Ismail Khan

Stammesälteste wurden mit Kabeln verprügelt: „Versucht nicht, zur Loja Dschirga zu kommen!“Den Vorstand des Herater Frauenrates bestimmte Ismail Khan gleich selbst

aus Herat JAN HELLER

Wer mit einer offiziellen Delegation nach Herat kommt, ist beeindruckt. Denn Ismail Khan, der unbeschränkte Herrscher der vier afghanischen Westprovinzen, organisiert in solchen Fällen einen großen Empfang. Auf dem Flugplatz muss eine Front angetretener Soldaten abgeschritten werden. Limousinen fahren vor, dann geht es auf der von alten Pinien gesäumten Zufahrtsstraße in die Stadt. Die Kolonne durchfährt ein Spalier von im Abstand von 50 Metern strammstehenden Polizisten, die salutierend die Hand an die Mütze heben. Dann geht es in die schattige Residenz des „Amir“ selbst (siehe Kasten), malerisch auf einem Berghang über der Stadt gelegen.

Einmal wöchentlich hält Ismail Khan hier seinen klassischen Traditionen nachempfundenen „Diwan“ ab, in dem das Volk Petitionen einreichen darf. Das Volk drängt sich. Um ausgewählte Klienten kümmert sich der „gute Emir“ dann wie einst der legendäre Kalif Harun al-Raschid persönlich. Das ist seine Auffassung von Demokratie. Deshalb lädt er gern ausländische Gäste zu diesen Sprechstunden.

Die Herat-Show soll vor allem eines verdeutlichen: Kabul ist weit, und hier bin ich, Ismail Khan, der Chef.

Vom einstigen Glanz Herats, das in der islamischen Welt einmal den Rang Bagdads oder Bucharas besaß, zeugen heute nur noch die vier übrig gebliebenen Minarette der Musalla – ein Komplex aus Moscheen und angeschlossenen Schulen –, das vom Verfall bedrohte Grabmal des Dichters Chodscha Ansari und die Freitagsmoschee, die schönste Afghanistans. Noch heute wird gern der Spruch zitiert, in Herat könne man sich nicht umdrehen, ohne einem Dichter auf die Füße zu treten. Stimmt: Die älteste und berühmteste Literaturgesellschaft des Landes, die Andschuman-e Adabi-ye Herat, hat sogar die Taliban überlebt.

Der einstige Mudschaheddin-Führer Ismail Khan, keine einssiebzig groß, gibt sich gern bescheiden. Auch höchste Gäste empfängt er im sandfarbenen Parka und mit seinem immer etwas unordentlich zipfelnden, schwarz-weiß gewürfelten Turban um den Kopf. Er lächelt freundlich, seine schlauen Augen blitzen über dem grauen Bart. Aber er kann auch scharf werden. Am liebsten teilt er gegen Journalisten aus, denn zuletzt hatte er keine gute Presse mehr. Den Bericht der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der heute veröffentlicht wird und der erstmals Ismail Khans brutales politisches Regime im Detail darstellt, wird er überhaupt nicht mögen.

Als Ismail Khan kurz nach dem Verschwinden der Taliban wieder in Herat einzog, setzte er eine Schura (Rat) von Ältesten und Intellektuellen, die die Stadt zunächst übernommen hatten, kurzerhand ab. Als diese in der großen Moschee vor Heratern und internationaler Presse ihre Unterstützung für den auf dem Bonner Petersberg verhandelten Verständigungsprozess zwischen den afghanischen Fraktionen und für den ehemaligen König verkünden wollten, ließ er seine Kämpfer über ihre Köpfe feuern. Ratssprecher Abu Bakr Bares, ein Greis von fast 70 Jahren, wurde verhaftet und mit Dornenzweigen bewusstlos geschlagen. Als Bares ein halbes Jahr später für die Loja-Dschirga-Ratsversammlung kandidieren wollte, gingen bei ihm Todesdrohungen eines lokalen Statthalters des „Amir“ ein, von Kommandeur Naim Haqdschu, dessen Name ausgerechnet „Der das Recht Suchende“ bedeutet. Bares gab auf.

In Sachen Loja Dschirga wollte Ismail Khan nichts dem Zufall überlassen. Reihenweise wurden Kandidaten zum Geheimdienst bestellt und bearbeitet. Im Distrikt Gorian ließ Ismail Khan paschtunische Stammesälteste gleich im Dutzend verhaften und mit Kabeln prügeln. Dazu hieß es: „Versucht nicht, zur Loja Dschirga zu kommen.“ Bereits Gewählte wurden gezwungen, ihre von den UN beglaubigten Delegiertenpapiere zurückzugeben. Die Frauendelegierten wies er persönlich an, sich in Kabul nicht kritisch über ihn zu äußern. Zur Sicherheit bekamen sie ein paar Aufpasserinnen mit. Vier der acht Morde, die die UNO im Zusammenhang mit der Loja Dschirga öffentlich machte, ereigneten sich in Ismail Khans Einflussbereich. Zwei Kandidaten wurden in ihren Betten mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet, ein dritter vor Zeugen von Ismail-Khan-treuen Mudschaheddin verhaftet – und ein paar Stunden später erschossen am Straßenrand wiedergefunden.

Einer der wenigen, die widerstanden, ist Muhammad Rafiq Schahir. Der Vorsitzende des örtlichen „Rates der Spezialisten“, einer nichtstaatlichen, eher unpolitischen Vereinigung von Juristen, Lehrern und anderen Berufsgruppen, wurde zwei Tage lang beim Geheimdienst verprügelt, dann nachts auf den Friedhof gefahren, wo man ihm eine Pistole an den Kopf hielt: „Wie könnten dich hierlassen …“. Nach Intervention der UN und der USA musste Ismail Khan ihn freilassen, und Schahir fuhr tatsächlich nach Kabul. Dort sah er Ismail Khan wieder – im Publikum der Loja Dschirga. Schahir hielt sich auf der Versammlung zurück und vermied es sogar, Gleichgesinnte aus anderen Landesteilen zu treffen. „Nachdem Schahir verhaftet wurde, verstummten die Leute“, zitiert jetzt der Human-Rights-Watch-Bericht eine Einschätzung aus Herat.

Inzwischen enthält sich die Zeitschrift des von Schahir geleiten Rates aller kritischen Töne. Das Magazin der Literarischen Gesellschaft erscheint seit zwei Monaten nicht mehr, nachdem Ismail Khan den Vorstand aufforderte, positive Artikel „über den Dschihad und den Schleier“ zu drucken. Den Studenten der Universität untersagte er, sich zu politischen Themen zu äußern. Den Vorstand des erst im August gegründeten Herater Frauenrats bestimmte Ismail Khan gleich selbst.

Nachdem sich Ismail Khans Repression auch gegen die paschtunische Minderheit richtet, erhebt sich auch bewaffneter Widerstand. Erst am Wochenende beschossen Ismail Khans Truppen einen Basar im Einflussgebiet seines Widersachers Amanullah Khan südlich von Herat und töteten 17 Menschen. Amanullah hatte vor kurzem eine Delegation von Stammesältesten nach Kabul geschickt, die Interimsstaatschef Karsai aufforderte, Ismail Khan abzulösen.

Inzwischen hat Herat auch wieder eine Religionspolizei nach Taliban-Art. Im Oktober fackelte sie auf dem Basar hunderte „unislamische“ Video- und Musikkassetten sowie Filmplakate ab. Im Fernsehen blenden die Zensoren Blumenmotive ein, wenn eine unverschleierte Frau auf der Szene erscheint. Ismail Khan dekretierte, dass kein Mann einer Afghanin die Hand geben darf. Männer wie Frauen müssen „islamische“ Kleidung tragen. Sogar Schlipse sind verboten.

Da liegt im Bericht von Human Rights Watch die Folgerung nicht fern, dass Herat „in vielem“ so aussieht „wie unter den Taliban“: „eine geschlossene Gesellschaft, in der es keinen Dissens gibt, keine Kritik an der Regierung, keine unabhängigen Zeitungen, keine Freiheit, offen Versammlungen abzuhalten, und keinen Respekt für die Herrschaft des Gesetzes (‚rule of law‘)“. Die Menschenrechtsorganisation fordert, das Mandat der Internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf über Kabul hinaus aufs ganze Land auszudehnen. Denn die Abwesenheit von Friedenstruppen an Orten wie Herat habe zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in Afghanistan beigetragen, heißt es in dem Bericht.

Der HRW-Bericht im Internet: http://hrw.org/reports/2002/afghan3/