Wo‘s Knödel bald mit Sushi gibt

Das Leben in der Kleinstadt beginnt sich zu verändern. Die Immobilienpreise steigen schon.

aus Prag und Kolín SABINE HERRE

Sollte man das dem mächtigen französischen Automanager wirklich glauben? Von der Türkei bis Portugal habe der Konzern gesucht nach einem Produktionsort für seinen neuen Kleinwagen, bevor er sich für das tschechische Kolín an der Elbe entschied. Und dann kann er nicht erklären, warum. „Ich weiß es nicht“, sagt Denis Duchesne und lächelt unschuldig.

Der Senior Managing Director von Peugeot-Citroën und sein japanischer Toyota-Kollege Masatake Enomoto sind die Stars des Prager Autocee 2002. Rund 230 Manager haben sich zu diesem wichtigsten Treffen der Automobilindustrie Mitteleuropas im Prager Messezentrum versammelt, um dabei zu sein, wenn die derzeit attraktivsten Märkte Europas aufgeteilt werden. Und so lässt die französisch-japanische 1,5 Milliarden-Euro-Investition in der mittelböhmischen Kleinstadt Kolín selbst das VW-Škoda-Joint-Venture aus dem nahen Mlada Boleslav bescheiden erscheinen.

TPCA, Toyota-Peugeot-Citroën-Automobiles, gehört die Zukunft. 300.000 „B-Zeros“ werden in Kolín ab 2005 vom Band rollen und ganz Europa, Ost wie West, mit einem Kleinwagen versorgen, der billiger auf dem Markt nicht zu haben sein soll. Von diesem Kuchen möchten die anwesenden Manager unbedingt etwas abhaben. Wer produziert den Stahl? Ist der Auftrag für die Informatik schon vergeben? Goldgräberstimmung an Moldau und Elbe.

Warum also ausgerechnet Kolín – für diese größte ausländische Neuinvestition in Tschechien?

Derjenige, der darauf eine Antwort geben könnte, hat bei dem Vortrag des Franzosen Duchesne bereits den Saal verlassen: Martin Jahn ist Generaldirektor der Investitionsagentur „Czechinvest“ und damit einer der Väter des Booms der Automobilindustrie in Tschechien. Ein junger Vater allerdings. Gerade 32 Jahre alt ist „der Martin“, wie ihn hier viele nennen. Dennoch tut er so, als hätte er nie etwas anderes getan, als die mit mehreren Preisen ausgezeichnete, derzeit erfolgreichste Investitionsagentur Europas zu leiten. 515 Millionen Euro hat Czechinvest allein in der ersten Hälfte dieses Jahres ins Land geholt. Seit 1993, dem Gründungsjahr, sind es über 6 Milliarden. Zum Vergleich: Der Umfang des tschechischen Haushalts liegt bei 8,6 Milliarden Euro.

Und so preist die Internetseite der Agentur die Vorteile des Landes dann auch in gleich vier Sprachen, auf Tschechisch, Englisch, Deutsch und Japanisch, an. 92 Prozent aller jungen Tschechen hätten zumindest einen Hauptschulabschluss, EU-weit seien es lediglich 69 Prozent. Und: Fast 2.000 Stunden arbeite ein Tscheche im Jahr, 400 mehr als ein Deutscher.

Beim Standortvorteil Lohnkosten hingegen lässt man sich erst gar nicht zum Vergleich mit dem Westen herab, sondern verweist auf Polen: Dort verdiene ein Arbeiter fast doppelt so viel wie in Tschechien. Ganz klar also, wohin das Kapital aus dem Ausland wandert.

Dabei war Czechinvest zunächst gar keine tschechisches, sondern ein slowakisch-irisch-schottisches Projekt. Von den Inseln kamen die Berater mit ihren Erfahrungen, aus der Slowakei kam der erste Direktor und Vorgänger von Martin Jahns, der heute 59-jährige Jan Amos Havelka. Mit nur sechs Leuten fing er an, denn Czechinvest war, so sagt Havelka, „kein Wunschkind“. „Besonders der damalige Finanzminister Václav Klaus war davon überzeugt, dass Tschechien so toll ist, dass wir eine solche Agentur überhaupt nicht brauchen.“ Doch die Czechinvest-Macher wussten, von wo sie Unterstützung bekommen konnten. „Ohne das Geld der EU hätten wir nicht überleben können. Bis zu 60 Prozent wurden wir in manchen Jahren von Brüssel finanziert.“

Das Brüsseler Geld stammte aus dem Projekt „Phare“, einem der vielen Töpfe, die den Beitrittskandidaten zur Vorbereitung auf ihre EU-Mitgliedschaft zur Verfügung stehen. Projekte für die Roma-Minderheit werden daraus ebenso finanziert wie Fortbildungsprogramme für Arbeitnehmer. Gut 750 Millionen Euro stellte Brüssel dafür seit 1989 zur Verfügung. Zwischen 1 und 2 Millionen Euro davon erhielt Czechinvest in den 90ern pro Jahr. Das ist nun vorbei. Inzwischen geht es der Region Prag so gut, dass es keine Fördermittel aus Brüssel mehr beanspruchen kann, und damit muss auch Czechinvest auf eigenen Beinen stehen.

Inzwischen hat Czechinvest nicht mehr sechs, sondern hundert – fast ausschließlich tschechische – Angestellte. Obwohl das staatliche Unternehmen keine Löhne wie die Privatwirtschaft zahlen kann, gehören diese zu jener Generation junger, gut ausgebildeter Tschechen, die gerade dabei sind, der Nach-Wende-Elite die Macht aus den Händen zu nehmen. Im Unterschied zu vielen alten Tschechen, die ausländische Investitionen noch immer als Ausverkauf ihres Landes sehen, blicken die jungen schon lange nicht mehr nur nach Europa. Japan ist nach Deutschland inzwischen der zweitwichtigste Investor in Tschechien, und auch Havelka sieht es als seinen größten Erfolg an, den Elektronikkonzern Matsushita nach Pilsen geholt zu haben.

Zumindest einen Japaner gibt es inzwischen auch in Kolín. Tecuja Jamada ist seit einigen Wochen dabei, sich an böhmische Knödel zu gewöhnen, und hätte doch viel lieber frischen Meeresfisch. Das zumindest weiß eine örtliche Zeitung zu berichten, die auch nicht versäumt, darauf hinzuweisen, was dem Toyota-Mann am meisten Sorge bereitet: „Die Kommunikation. Ich werde wohl doch Tschechisch lernen müssen.“

Das Leben in der mittelböhmischen Provinzstadt mit ihren gut 30.000 Einwohnern beginnt sich schon jetzt zu verändern. Zwar gibt es direkt beim Rathaus mit seiner schwarzweißen Sgraffiti-Renaissancefassade noch immer jenes schmuddelige Buffet, wo man für ein paar Kronen die fetttriefende Bratwurst mit einem wässrigen Bier hinunterspülen kann. Doch nur wenige Meter entfernt hat nun das erste Straßencafé des Marktplatzes eröffnet, und hier, im „Monet“, kostet der Espresso ungefähr so viel wie das Bratwurstgedeck gegenüber. Selbst die erste Sushi-Bar wird wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Gestiegen sind auch die Immobilienpreise. Wenn denn überhaupt noch etwas zum Verkauf angeboten wird. 3.000 Arbeitsplätze, die Zulieferer gar nicht mit gerechnet, werden schließlich mindestens hier entstehen. Und die Arbeiter brauchen Wohnraum. „Die Leute warten jetzt ab, wie viele aus dem Ausland oder aus Prag kommen“, sagt Kolíns Bürgermeisterin Zdenka Majerová im Rathaus. Erst dann, versteht sich, werden die Preise festgelegt.

Die 55-jährige parteilose Majerová ist eine Einheimische. Was nicht heißt, dass sie gegen das französisch-japanische Autoprojekt wäre. Im Gegenteil. Sie wollte ausländische Investoren an die Elbe holen: „Ich schloss die Augen und ging im Kopf all die Wiesen und Äcker durch, fragte mich ständig, was sich für eine Gewerbefläche eignen könnte. Wir haben schließlich eine 150-jährige Tradition als Industiestandort, liegen an einem Eisenbahnknoten und der Schnellstraße nach Prag – warum sollte da niemand zu uns kommen?“ Und doch scheiterte die Bürgermeisterin. Zunächst. Der Münchner Autobauer BMW entschied sich im Frühjahr 2001 bei der Suche nach einem neuen Produktionsstandort nicht für Kolín, sondern für Leipzig. Was man an der Elbe nicht so recht verstand: Schließlich hatten die Bayern schon ihre Kundschafter ausgesandt. Hatten sich nach der Qualität der Tennisplätze und den künftigen Schulen für ihre Kinder erkundigt.

Wenn man Zdenka Majerová heute nach den Gründen für diesen Misserfolg fragt, sagt sie: „Die deutsche Regierung hat es wohl nicht zulassen können, dass ein so wichtiges Werk im Ausland und nicht in Ostdeutschland entsteht. Bei der hohen Arbeitslosigkeit dort.“ Und auch bei Czechinvest macht man mehr oder weniger deutlich, dass Berlin mit entsprechenden Subventionen nachgeholfen habe. Wobei Prag nicht mithalten konnte.

Die Investitionsagentur preist an: Tschechische Arbeiter wollen wenig Lohn und arbeiten viel.

Die Bürgermeisterin aber arbeitete weiter an ihrer Gewerbefläche – auch ohne Investor. Schließlich hat die Region eine Arbeitslosigkeit von rund 10 Prozent, ist sie trotz der Nähe zur Hauptstadt die ärmste des Landes. „Unser größtes Problem war es, die Leute davon zu überzeugen, dass sie die Äcker ihrer Großväter und Urgroßväter verkaufen. Damit ihre Söhne und Enkel Arbeit haben“, sagt Zdenka Majerová. „Dafür waren unzählige persönliche Gespräche nötig. Das war psychisch für uns alle ungeheuer anstrengend.“

Doch die Bürgermeisterin hat alle ohne Ausnahme überzeugt. Im Unterschied zu manch anderen Städten Tschechiens versuchte kein Eigentümer, den Grundstückspreis in die Höhe zu treiben.

Und so stellt beim Prager Autocee der französische Automanager Duchesne fest: „Die Zusammenarbeit mit den örtlichen und staatlichen Behörden war einfach ausgezeichnet. Nicht zuletzt dank Czechinvest.“

Auch das kann man nun wiederum kaum glauben. Wer Tschechien nur ein bisschen kennt, weiß, dass dort nichts ohne zumindest ein klein wenig Schmiergeld abgewickelt werden kann. Sollte das bei Czechinvest tatsächlich anders sein?

Czechinvest-Gründer Havelka betont, dass sich die Agentur von niemandem reinreden lasse. Auch nicht von der Politik. Im Unterschied zu Polen oder Ungarn habe bei Czechinvest bei Regierungswechseln niemand seine Stelle verloren. Tatsächlich jedoch gibt es bereits erste Zeitungsartikel, die von einer übermäßigen Subvention des Kolíner Gewerbegebiets berichten. „Da gibt es viel Neid“, heißt es bei Czechinvest. Und Neid sei in Tschechien neben der Korruption eben die zweite feste Größe.

Der Ort des Neides, die „Äcker der Urgroßväter“ Kolíns, haben sich inzwischen in eine riesige Baufläche verwandelt. 125 Hektar ist sie groß, wohl zweimal würde das kleine Dorf Ovcary, an das sie grenzt, hineinpassen. Bisher war Kolín im Ausland allenfalls wegen seines Blasmusikfestivals bekannt. Das wird sich nun ändern.