Eintragung ins Nichts

Eine große Retrospektive des Werks von Moissey Kogan im Marcks-Haus zeigt Bildhauerei ex negativo. Über das wechselvolle Leben des „großen Unbekannten“ der europäischen Bildhauerei

Betritt man dieser Tage den Eingangsraum des Gerhard-Marcks-Hauses, könnte das – von Außen betrachtet – wie eine Slapstick-Szene aussehen: Der Besucher blickt erwartungsvoll nach oben. Und sieht – nichts. Senkt er den Kopf, fällt sein Blick zunächst auf eine Bronzestatue. Vielleicht vierzig Zentimeter groß, steht sie auf einem Podest. Sie stellt eine Frau dar, nackt. Klassisch. In den anderen Räumen: Frauenkörper und -torsi, in Terracotta oder Bronze, als Holzschnitt, als Teil von Reliefs oder auch gestickt.

Gestickt? Das nun will so gar nicht zum heroisch-männlichen Bild vom Bildhauer passen. Doch es gibt eine Reihe von Berichten darüber, wie Moissey Kogan im Café du Dome sitzt – und stickt.

Kein Zufall vielleicht, dass der Blick zunächst ins Leere geht. Kogan darf wohl der „große Unbekannte“ in der europäischen Bildhauerei des 20. Jahrhunderts genannt werden. Dabei ist man schnell dabei, diese Leerstelle, die er ausfüllt, zu seiner Biografie in Verbindung zu setzen. Fast scheint es, als sei die Negativ-Form, an der er zeitlebens herum experimentierte, nicht nur für seine Arbeit, sondern auch für sein Leben programmatisch. Bildhauerei ex negativo.

Es finden sich viele Motive, die für die Geschichte der europäisch-jüdischen Kultur des barbarischen 20. Jahrhunderts wichtig sind: Ortlosigkeit, kosmopolitische Orientierung und so weiter. Nicht zufällig, so scheint es rückblickend, hat Auschwitz – haben die Deutschen – Kogans Lebenswerk ein Ende gesetzt. Abrupt und absolut. Fast folgerichtig fiel er später aus der Kunstgeschichtsschreibung, die plötzlich und immer wieder keine europäische mehr war.

Aber: War Kogan ein „jüdischer Künstler“. Ja und nein. Einerseits passen biografische Details – von den Pogromen im zaristischen Russland über ein universalistisch gedachtes „Weltbürgertum“ bis zur Shoah – ins Bild. Andererseits findet sich in den nun zugänglichen Objekten nichts, was Jüdisches thematisieren würde. Ohne Shoah, so zynisch die Überlegung sein mag, wäre Kogan heute kaum als „jüdischer Bildhauer“ bezeichnet worden.

Schaut man die Gesichter der Figurendarstellungen an, fällt auf – man kann dies durch die geschickt durcheinandergewürfelten Räume zu Frühwerk, 20-er und 30-er Jahren durchaus verfolgen –, wie Portraithaftes immer mehr dem übergeordneten Platz macht. Mehr und mehr tendiert Kogan in Richtung der Idee „Frau“, der Idee „Mensch“. Darum die offensichtliche Affinität zum Naiven der „exotischen“ Künste, auch wenn er nie in Asien war. Deutlich wird dies vor allem an einer Rarität. 1922 illustrierte Kogan die monströse Dichtung „Jizo“ von Karl With. Eine Art theosophischer Universalismus schafft sich in diesem bibliophilen Exponat Platz. Kogan steuert Linolschnitte bei. In einer Mischung aus Türkis und Goldfarben synthetisiert er die „Naivität“ asiatischer Formgebung. Und nicht nur hier scheint er auf der Suche nach einer Urform.

So verquast sich das heute anhören mag, so rätselhaft vieles von dem, was den Bildhauer antrieb auch ist, er markiert doch eine wichtige Epoche europäischer Bildhauerei. Damals, so scheint es, war Übernationales möglich und sinnvoll. Kogon fungiert hier als „fehlendes Glied“ etwa zwischen Lehmbruck und Maillol. Technisch, stilistisch und gedanklich. Man muss die theosophische Grundierung nicht teilen, um vom raren Werk Kogans fasziniert zu sein. Der beeindruckende (und angenehm kleinformatige) Katalog tut sein Übriges.

Tim Schomacker

Bis zum 2. Februar im Gerhard-Marcks-Haus. Eröffnung ist Sonntag, 11.30 Uhr. Der (vorzügliche) Katalog kostet 22 Euro.