Wie aus Schulabbrechern gute Gäste werden

Die Berliner Werner-Stephan-Hauptschule hat sehr gute Erfahrungen mit der vorläufigen Versetzung von schwachen Schülern gemacht

BERLIN taz ■ Früher war die Werner-Stephan-Schule in Berlin-Tempelhof eine Hauptschule wie alle anderen: Keiner wollte kommen. Und wer erst einmal da war, wollte möglichst bald wieder weg. Fast jeder vierte Schüler – damit lag man im düsteren Durchschnitt der wenig zukunftsträchtigen Hauptschulen – blieb vorzeitig ganz weg. Bei manchen der Schulabbrecher kam die Schulabstinenz schleichend. Andere wurden von heute auf morgen nicht mehr gesehen. In den vergangenen Jahren hat sich eben diese Schule zu einer gemausert, die es nach herkömmlicher Auffassung kaum geben kann: zu einer Hauptschule, die mehr Anmeldungen als freie Plätze hat.

Heute hält hier fast jeder bis zum Abschluss durch. Ein großer Teil schließt mit der Mittleren Reife ab. Immer wieder schafft sogar jemand den Sprung auf das Gymnasium. Der Erfolg der Schule, glaubt Schulleiter Siegfried Arnz, habe nicht zuletzt damit zu tun, dass das Sitzenbleiben abgeschafft wurde. Arnz hat einen findigen Weg entdeckt, das Landesschulgesetz zu umgehen: Kann ein Schüler wegen zu schlechter Leistungen nicht versetzt werden, bekommt er in der höheren Klasse zunächst einen „Gaststatus“ – das heißt, eigentlich wird er wie alle anderen versetzt. „Zu gegebenem Anlass“, also wenn sich die Anzeichen mehren, dass seine Leistungen besser geworden sind, kommt die Klassenkonferenz zusammen. Die entscheidet, ob der Schüler oder die Schülerin „nachversetzt“ werden kann.

Nach Angaben des Schulleiters schafft mindestens jeder Zweite auf diese Weise doch noch in der Regelzeit einen Abschluss. „Es gibt Schüler, die ein, zwei Jahre durchhängen und plötzlich zu großer Form auflaufen“, sagt Arnz. „Gerade wenn in der neunten Klasse das Ende in Sicht ist, fangen viele plötzlich an zu lernen, weil ihnen dämmert, dass der Weg nicht mehr weit ist.“

Dass das Berliner Schulgesetz diese etwas eigenmächtige Form der „Nachversetzung“ so nicht vorsieht, ist Arnz herzlich egal. Nur so, sagt er, könne man nicht nur das Sitzenbleiben umgehen – sondern auch die katastrophal hohen Abbrecherquoten drücken. Viele so genannte Schulverweigerer würden nämlich mitnichten von sich aus verweigern. „Es gibt Schüler, die werden jedes Jahr auf’s Neue nicht versetzt. Wenn sie zum dritten Mal in der siebten Klasse sitzen – was sollen sie denn dann anderes machen, als wegzubleiben?“ Glaubt man Arnz, hat auch wiederholtes Sitzenbleiben nicht notwendigerweise etwas mit schulischer Unfähigkeit zu tun. „Ein Hauptschüler hat in aller Regel sechs Jahre schlechte Erfahrungen mit der Grundschule hinter sich“, sagt er. „Er ist in der Grundschule nie mitgekommen, oft verhaltensauffällig geworden. So jemand hat schlicht keine Motivation, weil er oder sie nie gesehen hat, dass es sich lohnen kann, sich anzustrengen.“ Eine der obersten Aufgaben von Schule – und zwar nicht nur von Hauptschule – sei etwas ganz anderes als die Erteilung von Noten: die Stärkung des Selbstbewusstseins von Schülern und Schülerinnen. „Wenn uns das gelingt, haben wir alle Chancen der Welt“, sagt Arnz. „Wenn es uns nicht gelingt, dürfen wir uns nicht wundern wenn Schüler wegbleiben.“ JEANNETTE GODDAR