murg in continuu

Noch einmal ordentlich im Wörtermüll gewühlt: der Lyriker Ulf Stolterfoht und sein Band „fachsprachen X–XVIII“

Die Bücherhalle in Berlins Schöneberger Hauptstraße muss ein inspirierender Ort sein, zumindest für einen eigensinnigen Lyriker wie Ulf Stolterfoht. Zu Zeiten, in denen sich Dichter gerne wieder von tanzenden Schmetterlingen oder dem eigenen Hormonspiegel beflügeln lassen, holt sich Stolterfoht seinen poetischen Vollrausch im Staub der Bibliotheken. Das ist ein striktes Befolgen der alten Mallarmé-Doktrin, nach der Gedichte nicht aus Gefühlen entstehen, sondern aus Wörtern – und die kommen bekanntlich aus Büchern.

Wie schon in seinem Debüt „fachsprachen I–IX“ bezieht der 1963 im Schwäbischen geborene Wahlberliner auch das Material für seine neue Lieferung „fachsprachen X–XVIII“ über weite Strecken aus Fremdtext, vorzugsweise aus sprachanalytischen Theoriewerken und Wörterbüchern. Aber auch der frei flottierende Sprachmüll des Alltags, Redewendungen, Werbeschnipsel oder der Zitatenschatz abendländischer Dichtkunst: Alles ist Material, Hauptsache, es kommt als Wort daher. Und so wird denn auch manisch montiert, kompiliert und persifliert, eingedampft und angereichert, dass einem Hören und Sehen vergeht. Nicht, weil man es nicht mehr ertrüge, sondern weil einem die Textgebilde nahe legen, man möge sich, um zu folgen, schleunigst von den üblichen Lesegewohnheiten verabschieden: „murg in con- / tinuu. tiv sturz. dezastru complet. demn sem- / nalizator pulveriza bluming transfug vi popic / poetic.“

Was immer da auch pulverisiert wurde, es war Rumänisch – jedenfalls soweit es im Wörterbuch die muttersprachlichen Anklangsnerven eines deutschen Dichters trifft. Ähnlich elaborierten Unsinn gibt es neben Finnisch und Polnisch noch in einem halben Dutzend anderer Idiome zu lesen. Aber es geht auch verständlicher: „dem dichter ist die erfassung der welt in ihrer gliederung / zum triebziel geworden. weshalb ihm in tiefster fachlicher / versenkung die gefahrenabwehr versagt. was er beklagt. da- / hinter lauert die leere. reim schließt sich eher aus als / ein. gedankliches nachschaffen gerät rasch zur parodie. / auch vegetatives wäre zu nennen: darmempfindung und hang // zum akronym.“

Ob sich Stolterfoht nun fremdes Vokabular anverwandelt oder die Lage der aktuellen Lyrik bilanziert, zentral bleibt ihm das eine: „ach sprache / das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem // unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben.“ Unaufgeräumt ist in diesen Gedichten allerdings gar nichts. In präzise vermessenen, meist drei- bis sechszeiligen Strophen organisiert Stolterfoht seinen Stoff, und es macht großen Spaß, dabei zuzusehen, wie sich die Lyrik hier über Umwege ihre eigentlichen Ausdrucksqualitäten zurückerobert. Den meisten Strophen liegt ein eher prosaischer Satzbau zugrunde, kaum eine Zeile ist metrisch gedacht, durch die raffinierte Montage aber, durch Zeilenumbrüche und die Segmentierung einzelner Satzteile, ergeben sich rhythmische Strukturen, Binnenreime und Assonanzen beinahe von selbst. Verse sind nicht gewollt, sie entwickeln sich aus einer inneren Zwangsläufigkeit. Das Ergebnis sind formal höchst geschlossene Gedichte, die völlig frei sind von poetischen Klischees.

Während Stolterfoht im ersten Band die Fachsprachen als begehbare Räume erkundete und darüber auch seine eigene Lyrik als Fachsprache entdeckte, geht es in der neuen Folge vor allem um die Bewegung selbst. Etliche Texte sind ein direkter Reflex auf den Schreibvorgang und haben somit nicht mehr (aber auch nicht weniger) zum Gegenstand als ihr eigenes Entstehen: „die angst vor dem plot und gütiger gott! betrachten sie / bloß: dieses schreiben fürs erste als gegenstandslos.“

Ein Bekenntnis zur experimentellen Lyrik, zum Gedicht, das sich um „Welthaltigkeit“ nicht schert, weil es sich seiner Wörter gewiss sein kann, und das statt auf lyrische Gestimmtheit lieber auf gescheiten Humor und eine gehörige Portion Selbstironie setzt: „doch woher kommt das entweihte gedicht? aus langeweile und / honorarbedürfnis. experimentelle lyrik entsteht genau dann / wenn man nichts mehr zu schreien hat außer: hunger! aber / nichts ißt weil einem die köchin nicht gefällt. so ungefähr.“ NICOLAI KOBUS

Ulf Stolterfoht: „fachsprachen X–XVIII“. Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2002, 128 S., 14,50 €