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Deutsch-französische Meinungsverschiedenheiten: In Brüssel soll nun so lange verhandelt werden, bis ein Kompromiss im Agrarstreit erreicht ist

Das Geplänkel ist eine abenteuerliche Verschwendung von Zeit und EnergieHotelzimmer sind schon mal bis Sonntag reserviert, sagt ein dänischer Diplomat

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

In den Kandidatenländern fragt man sich allmählich, was diese Europäische Union eigentlich für eine Chaostruppe ist. Schon bislang hatten Politiker in Polen oder der Slowakei ihre Mühe damit, dem Wahlvolk zu erklären, welche Vorteile die Brüsseler Zentrale gegenüber dem Moskauer Vorläufermodell bringt. Nach den Erfahrungen der vergangenen Tage werden viele sagen, Moskau sei wenigstens berechenbar gewesen.

Am letzten Wochenende erst hatte Polens Staatspräsident Alexander Kwaśniewski ein Guinness darauf getrunken, dass die Iren mit ihrem Ja zum Nizza-Vertrag den Weg für die Erweiterung freigemacht hatten. Nur zwei Tage später zeigten sich die europäischen Außenminister bei ihrer Vorbereitung auf den heute beginnenden entscheidenden EU-Gipfel in Brüssel so kompromissunfähig, dass der polnische Außenminister in einem Interview sehr ernüchtert wirkte: Wenn diese Woche kein gemeinsames Finanzierungsangebot der EU-Chefs auf den Tisch komme, dann seien nicht etwa die Kandidatenstaaten zu schlecht auf die Erweiterung vorbereitet, sondern die Union selber.

Die dänische Regierung, die derzeit turnusmäßig den Rat führt, geht davon aus, dass der Brüsseler Gipfel die letzte Gelegenheit bietet, einen gemeinsamen Standpunkt für die umstrittenen Finanzfragen zu finden. Sämtliche Verhandlungskapitel, die das Budget berühren, konnten bislang nicht abgeschlossen werden, weil sich die Regierungen nicht einig sind. Es geht darum, ob das beim Berliner Gipfel bis 2006 eingeplante Geld ganz ausgegeben wird und wie es verteilt werden soll.

Die EU-Kommission hat am 9. Oktober empfohlen, zehn der dreizehn Kandidaten 2004 in die Union aufzunehmen. Sie hat bereits am 30. Januar einen Vorschlag gemacht, wie das eingeplante Geld auf Strukturförderung, ländliche Entwicklung und Direktbeihilfen für Bauern in den neuen Mitgliedsländern verteilt werden soll.

Inzwischen ist auch die polnische Regierung von der Forderung abgerückt, die Bauern müssten vom ersten Beitrittstag an die gleichen Leistungen erhalten wie ihre Kollegen in der alten EU. Der schwarze Peter liegt nun also beim Rat. Der hätte in den letzten Monaten genug Zeit gehabt, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden. Schließlich treffen sich die ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten jede Woche in Brüssel. Finanzen aber wurden dabei nicht berührt, sondern – wie so oft in der EU – den Chefs für eine nervenaufreibende Gipfelnacht überlassen.

Ausgewogene Gesamtlösungen werden dabei auf der Strecke bleiben. Am Ende läuft alles auf einen Machtkampf der beiden großen Flächenstaaten Deutschland und Frankreich hinaus. Deutschland als größter Nettozahler subventioniert die französischen Bauern indirekt mit. Schröder will verhindern, dass nach dem gleichen Schema künftig polnische Bauern aus deutschen EU-Beiträgen bezuschusst werden. Deshalb fordert er eine Garantie, die gesamte Agrarpolitik spätestens ab 2007 völlig neu zu organisieren. Chirac aber, der seine Bauern mit EU-Geld billig bei Laune halten kann, will das auf jeden Fall verhindern.

Angesichts der komplizierten Fragen, die vor dem Beitritt geklärt werden müssen, ist derartiges Geplänkel eine abenteuerliche Verschwendung von Zeit und Energie. Die grüne Osteuropa-Expertin Elisabeth Schroedter verlangte, dass „die Staats- und Regierungschefs historisches Bewusstsein unter Beweis stellen, damit der Europäische Rat nicht zu einem Basar der Teppichhändler degradiert“ würde.

Und Elmar Brok, ihr konservativer Kollege im Europaparlament, polterte, die deutschen Sozialdemokraten seien „Trittbrettfahrer“, wenn sie jetzt auf die Anti-Erweiterungs-Front einschwenkten. „Deutschland kann nicht versuchen, das, was es bei der Agenda 2000 falsch gemacht hat, jetzt innerhalb eines Vierteljahres in Ordnung zu bringen.“

Graham Watson, der Vorsitzende der Liberalen im Europaparlament, sagte, er unterstütze den Finanzierungsvorschlag der Kommission. Der französische Staatspräsident Chirac könne nicht einerseits jede Agrarreform blockieren und andererseits verlangen, dass die Briten auf ihren in Berlin nochmals verteidigten Beitragsrabatt verzichteten. Auf keinen Fall dürfe es dazu kommen, dass neue Mitgliedsländer sofort zu EU-Nettozahlern würden, weil die alten Mitglieder nicht auf ihre Privilegien verzichten wollten.

Diese Befürchtung ist nicht so absurd, wie es sich anhört. Schon im Januar hat die EU-Kommission gewarnt, dass nach der jetzigen Planung sechs der zehn neuen Mitgliedsländer im ersten Beitrittsjahr weniger aus der EU-Kasse erhalten würden als 2003 an Vorbeitrittshilfen. Einige könnten sogar Nettozahler werden, also mehr an Beiträgen bezahlen, als ihnen Fördermittel zustehen. Da die Beiträge jeden Monat fällig werden, die Zuschüsse aber verspätet ausgezahlt werden, könnte der Beitritt dazu führen, dass diese Länder neue Schulden machen müssen.

Die dänische Präsidentschaft will sich vom Finanzgerangel der beiden großen Länder Deutschland und Frankreich ihre Gipfelregie nicht ruinieren lassen. Man habe die Hotelzimmer vorsichtshalber bis Sonntag reserviert, verriet ein dänischer Diplomat gestern. Schließlich bestehe die EU nicht aus zwei Staaten, sondern aus fünfzehn. Man werde den Kandidaten wie versprochen einen seriösen Finanzvorschlag vorlegen – vorher werde niemand Brüssel verlassen.