Skurriler Freispruch für Psychiater

Ein mehrfach vorbestrafter Triebtäter hatte Ausgang aus einer Klinik erhalten und zwölf Rentnerinnen überfallen. Zwei Opfer starben. Gericht bescheinigt Medizinern pflichtwidriges Verhalten, spricht sie aber vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei

von BARBARA DRIBBUSCH

Es ist eine Frage, die die Öffentlichkeit zunehmend bewegt: Tragen Psychiater eine Mitschuld, wenn sie einem inhaftierten Triebtäter Ausgang gewähren und dieser dann Menschen ermordet? Kann man diese Ärzte dann wegen fahrlässiger Tötung belangen? Nein, urteilte gestern das Potsdamer Landgericht und sprach damit zwei Psychiater vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Das Gericht erkannte allerdings eine erhebliche Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht an. Und die Begründung, warum die Ärzte nicht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurden, ist skurril.

Die beiden Ärzte hatten dem als gefährlich eingestuften Sexualstraftäter Raymond S. im Oktober 1998 in der psychiatrischen Landesklinik Brandenburg/Havel Ausgang genehmigt. Der damals 35-Jährige kehrte aber nicht zurück und beging zwischen Herbst 1998 und Sommer 1999 zahlreiche Verbrechen. Er überfiel zwölf Rentnerinnen, vergewaltigte eine 96-Jährige. Zwei seiner Opfer starben an den Folgen der Angriffe.Die beiden ehemaligen Chef- beziehungsweise Oberärzte im Alter von 63 und 52 Jahren wurden daraufhin wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung angeklagt.

Warum die Ärzte jetzt glimpflich davonkamen und das Gericht nur ein Disziplinarverfahren anregte, um die Verletzung der Sorgfaltspflicht zu ahnden, ist einzigartig: Die Ärzte verdanken ihre Freisprüche den schlechten baulichen Sicherungsmaßnahmen in der Landesklinik. Raymond S. war nämlich schon vor dem folgenschweren Ausgang mehrfach aus der geschlossenen Abteilung geflüchtet. In dem alten Backsteinbau waren die Fenster nur mangelhaft vergittert und als wichtigste Sicherungsmaßnahme lediglich die Haustür abgeschlossen. Nach seinen Ausbrüchen kehrte S. teilweise sogar freiwillig wieder in die Klinik zurück.

Zu den folgenschweren Überfällen und Morden kam es aber erst, als die Ärzte ihm Ausgang gewährten. Dieser Ausgang sei zwar eine „Pflichtwidrigkeit“ gewesen, urteilte das Gericht, es gäbe jedoch keinen „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ zwischen dem Ausgang und den Morden. Denn es sei nicht auszuschließen gewesen, dass S. auch nach einer Verweigerung des Freigangs geflüchtet wäre und die Verbrechen verübt hätte.

Raymond S. war schon jahrzehntelang als Triebtäter bekannt und stand mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs und versuchten Mordes in der DDR vor Gericht. 1988 war er zu einer zehnjährigen Haftstrafe mit anschließender Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie verurteilt worden und kam dann 1997 in die psychiatrische Landesklinik Brandenburg. Ein Gutachter hatte S. eine hohe Gewaltbereitschaft bescheinigt und erklärt, er sei nicht therapierbar.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) bedauerte den Freispruch für die Ärzte und kritisierte, dass die Entscheidung ausschließlich auf einer „juristischen Spitzfindigkeit“ beruhe. S. wurde inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt.

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