Wo die Gondeln Sachsen tragen

Günstig im Loft wohnen und italienisch speisen, wo einst die Weiße Elster giftig schäumte, ist eine der besseren Arten, das Leben in Leipzig zu genießen. Zumal Matteo, weltweit einziger Gondoliere mit Führerschein, am Ristorante de Vito in See sticht

von HANNE BAHRA

Kommt er oder kommt er nicht? Abwarten und Espresso trinken. Wir sitzen beim Italiener Vito im ehemaligen Leipziger Industriegebiet und warten auf den Gondoliere. Träge treiben die ersten Herbstblätter mit dem Wasser der Weißen Elster vorüber. Paddler paddeln, als wollten sie den Sommer noch einmal zurückholen. Gut gelaunte Gesellschaften winken aus blumengeschmückten Ausflugsbooten. Enten schwimmen, wo früher nur giftige Schaumkronen kreisten.

Lange war die Weiße Elster ein von der Industrie geschwärzter Fluss, heute tummeln sich wieder Fische im Wasser, und die Häuser am Ufer sind beliebtes Ausflugsziel für Architekturfreaks. Vor allem aber entwickelte sich Plagwitz, vor gut einem Jahrzehnt eine eher abschreckende Adresse, zum begehrten Wohngebiet. Bis 1820 ein Dorf, expandierte der Stadtteil im Südosten von Leipzig bald zum Industrieviertel. Noch bis zur Wende gab es hier etwa 16.000 Arbeitsplätze.

Aus und vorbei. Plagwitz erlitt als Industriestandort den völligen Zusammenbruch. Auch die riesigen Werkhallen und Fabrikgebäude des ehemaligen Buntgarnwerkes dümpelten seit der Stilllegung 1991 am Ufer der Weißen Elster vor sich hin. Leer stehende Fabriken, marode Mietskasernen, verdreckte Wasserläufe – das war Plagwitz bis vor kurzer Zeit.

Inzwischen entwickelt sich dort, wo über 150 Jahre lang schwer malocht wurde, neues Lebensgefühl. Wenn morgens die Sonne in die bis zu 300 Quadratmeter großen Wohnungen scheint, wissen die neuen Bewohner, warum sie seit Jahren in einer alten Fabrik wohnen. Junge Leute zumeist, keine Stuck-Elite, sondern ein kreatives Völkchen, das sich die Hängematte zwischen die nackten, meterhohen Wände seiner Lofts spannt und die niedrigen Mieten genießt. Bei einem Leerstand von insgesamt 52.000 Wohnungen in Leipzig schrumpfte der hohe Mietpreis der schicken, unkonventionellen Wohnungen auf acht Euro pro Quadratmeter.

Schöner wohnen am Wasser. Und auch noch schöner essen. Die lang gestreckte Fassade der ehemaligen Fabrikanlage – roter Klinker, durch helle Putzbänder rhythmisch gegliedert – grenzt dicht an Vitos venezianische Welt. Eine schwimmende Terrasse, überschattet von zwei spitzen Zeltdächern, liegt vor dem Haus, das seit einigen Jahren Vito Signorellos Ristorante beherbergt. Drei lange, tiefschwarz lackierte Gondeln, ausstaffiert mit blutrotem Samt, schaukeln vor unseren Augen wie ein romantisches Versprechen. Wir aber sitzen noch immer auf den himmelblauen Plastikstühlen der Terrasse und warten auf Matteo, den Gondoliere. „Kommt er nicht um 12, kommt er vielleicht um 14 Uhr“, vertröstet uns Patrone Vito latinolässig. Dann geht er an seine Nudelmaschine und trällert ein Lied.

Jeden Tag steht Vito neben dem Tresen und fertigt vor den Augen der Gäste persönlich die Pasta. Bandnudeln, Röhrennudeln, Tagliatelle, auch Lasagne und Ravioli, nur Spagetti nicht. Trotzdem viel Arbeit. Auch das warme Weißbrot ist hausgebacken und duftet verführerisch.

Warten macht hungrig, wir studieren die Karte. Die Auswahl an Gerichten ist groß. „Seit vielen Jahren bin ich in diesem Land, aber dass hier jeder etwas anderes essen möchte, will mir noch immer nicht in den Kopf“, stöhnt Vito. Zu Hause in der Trattoria wurde gegessen, was auch für die Wirtsfamilie auf den Tisch kam. Wir entscheiden uns für Fisch. O bello Vito, deine gegrillte Seezunge ist ein Gedicht! Dann trinken wir noch einen Espresso, den besten, den man in Leipzig bekommen kann, je nach Wetterlage grob oder fein gemahlen – je wärmer die Tage, desto feinkörniger der Kaffee, lautet Vitos Geheimrezept.

Endlich kommt Matteo, der Gondoliere mit Strohhut, schwarzweiß gestreitem T-Shirt und Gondelführerschein. Ein echter Spezialfall.

Mit einem bürokratischen Akt der Sonderklasse gerieten Vitos Ristorante und die Stadt Leipzig sogar in die Schlagzeilen des Wall Street Journal. Allein schon der Kampf um die Genehmigung, Gondeln auf der Weißen Elster schwimmen zu lassen, war eine „year-long Odyssey“. Doch dann forderte das Ordnungsamt noch eine Führerscheinprüfung. Nun ist Matteo der weltweit einzige Gondoliere mit Führerschein.

Ristorante da Vito, Nonnenstraße 11b, 04229 Leipzig, Telefon (03 41) 4 80 26 26, täglich 11.30–14.30 und ab 18 Uhr geöffnet, Fr. erst ab 18 Uhr. Für eine Gondelfahrt sollte man sich unbedingt anmelden.