In der Okregowa stinkt‘s

aus Lodz GABRIELE LESSER

Im Morgengrauen öffnet sich quietschend ein eisernes Hoftor. Ein Mann in Trainingsanzug und Gummistiefeln, die Haare noch zersaust von der Nacht, schaut die Straße rauf und runter. Niemand zu sehen. Er verschwindet im Hof, bückt sich und schleppt einen Eimer bis an den Straßenrand. Er holt Schwung – und eine gelbbraune Flüssigkeit platscht auf das holprige Pflaster. Ein paar Meter weiter unten, auf der anderen Straßenseite, wiederholt sich das Schauspiel. Ein 16-jähriger Junge schüttet gleich zwei Eimer aus. Im Rinnstein fließt ein übel riechendes Bächlein. Wenn die Sonne höher am Himmel steht, kommen die Fliegen, und die Anwohner der Okregowastraße in Lodz, der zweitgrößten Stadt Polens, schließen die Fenster. Im Stadtteil Chojny stinkt es nach Kloake.

Bei den Wasser- und Kanalisationsbetrieben ist Andrzej Rodziewicz der Direktor. Man könnte sich den kräftigen Mann mit dem rosigen Gesicht und den energischen Gesten auch gut als Kanalarbeiter vorstellen. Rodziewicz wirkt betrübt, es geht nicht richtig vorwärts. 35.000 Menschen der rund 800.000 Einwohner sind bis heute nicht ans Abwassernetz angeschlossen. Um sie zu versorgen, müssten der Direktor und seine Mitarbeiter noch 500 Kilometer Kanalisation bauen. „Aber wir schaffen im Jahr nur 30 Kilometer“, sagt Rodziewicz: „Mehr Geld ist einfach nicht da.“

Nur Paläste, keine Kanäle

Als Lodz im 19. Jahrhundert eines der Zentren der Industrialisierung war, bauten die Textilunternehmer riesige Fabriken und Paläste. Aber für Abwasserentsorgung wollten sie kein Geld ausgeben. „Die Stadt muss furchtbar gestunken haben“, sagt Direktor Rodziewicz und schüttelt sich. Sein Gesicht hellt sich erst auf, als er erzählt, wie die Stadt 1925 endlich eine Kanalisation bekam. „Seit knapp 80 Jahren bauen wir Kanäle“, sagt er: „Inzwischen sind wir bei 1.600 Kilometern angekommen, 95 Prozent der Einwohner sind angeschlossen.“ Die Okregowastraße gehört nicht dazu. Wie gesagt: 500 Kilometer fehlen noch.

Der Ingenieur Waclaw Grzywacz ist im Lodzer Gemeindeamt dafür zuständig, Geld für den Ausbau der Kläranlage und der Kanalisation zu besorgen. Es ist die größte städtische Investition, die von der Europäischen Union aus den so genannten ISPA-Mitteln bezuschusst wird. Grzywacz wirkt mit seinen grauweißen Haaren mehr wie ein Professor als ein Beamter. „Wenn alles gut geht, habe ich die Dokumentation für die Ausschreibung bis Ende des Jahres fertig. Dann reichen die Firmen ihre Angebote ein. Dann dauert es noch mal acht Monate, bis entschieden ist, welche Firma das Rennen macht.“ Baubeginn für die biologische Reinigung des Abwassers wird frühestens September nächsten Jahres sein. Grzywacz seufzt: „Bei der EU geht alles einen extrem langsamen Gang. Es dauert und dauert. Wir Polen kennen das natürlich aus dem Sozialismus. Aber wir haben Schwierigkeiten damit, dass es im modernen Europa auch so lange dauert.“

Im September 2003 sollen die ersten 23 Millionen Euro für die Kläranlage fließen. Die Stadt Lodz wird den gleichen Betrag aus eigenen Mitteln investieren. An einer Tafel zeigt Grzywacz, wo für die nächsten zehn Jahre große Kanäle geplant sind. Er zuckt mit den Achseln: „Die Okregowastraße ist nicht dabei. Sie ist zu klein. Das lohnt sich nicht. Da müssen sich die Anwohner selbst drum kümmern.“

Zurück in die Zivilisation!

Im nächsten Jahr muss Waclaw Grzywacz den Antrag auf Erweiterung des Kanalisationsnetzes stellen, die Pläne für die einzelnen Stadtteile müssen dann genauer bearbeitet werden. Dann bekommen auch der Stadtteil Chojny und die Okregowastraße mitten im Stadtgebiet von Lodz noch eine Chance.

Bei den Michoreks treffen sich in der Mittagszeit die Sickergrubenbesitzer aus der Okregowastraße. Sie haben gehört, dass es EU-Geld für den Ausbau der Kanalisation geben soll. Die Aufregung ist groß. Alle schreien durcheinander: „Endlich Schluss mit dem Gestank! Zurück in die Zivilisation! Die Kinder werden nicht mehr so oft krank!“, rufen die einen erfreut. „Das wird nie etwas! Warum sollten uns Brüssel etwas umsonst geben? Oder ist etwa ein Politiker in die Okregowa gezogen?“, unken die anderen. Andrzej Michorek, der als Polizist in der Straße angesehen ist, ruft in die Menge: „Das ist unsere Chance! Nächstes Jahr werden die neuen Planungen für den Ausbau der Kanalisation gemacht. Wir müssen das Amt mit Anträgen überschütten.“

Stefan Fisiak ist Taxifahrer und ein Kollege von Andrzej Michoreks Vater. Der 62-Jährige und seine Nachbarn haben ihr Abwasserproblem gelöst. Er sagt: „Ich wohne im Stadtteil Lodz-Polesie. Da gab es auch keine Kanalisation. Wir haben in der Straße ein Komitee gegründet, uns über ein paar Jahre selbst besteuert, dann einen Kanalisationsarchitekten beauftragt, der für uns ein Projekt ausgearbeitet hat. Dann haben wir eine Baufirma gesucht, und am Ende hat die Stadt sogar 60 Prozent der Kosten übernommen.“

Nach den letzten Worten Fisiaks bricht die Diskussion wieder los: „Das ist doch nicht unsere Aufgabe!“, rufen einige. „Wozu haben wir denn einen Staat! Wozu zahlen wir denn Steuern! Jetzt sollen wir auch noch die Kanalisation selber bauen? Und wo ist das Geld aus Brüssel?“ Fisiak zuckt mit den Schultern. Er und seine Nachbarn hatten eben genug vom Gestank. Und wenn es stinkt, wartet man eben nicht ewig, bis der Staat was tut. Und auf die EU wartet man auch nicht. Fisiak sagt: „Das war ja, als ob man im Stall wohnt.“

In der Regionalen Entwicklungsagentur für Lodz versucht der Vorstandsvorsitzende Pawel Zuromski, ein bisschen Werbung für die Stadt zu machen: „Wir liegen in der Mitte Polens, absolut zentral. Hier werden sich einmal die großen Autobahnen von Norden nach Süden und von Westen nach Osten kreuzen. Und auch die Bahn will eine ICE-Strecke von Warschau nach Lodz bauen. Das sind ideale Bedingungen für Investitionen.“ Über Zuromskis Schreibtisch sind seit 1992 rund 9 Millionen Euro an EU-Zuschüssen aus dem Phare-Programm an mittlere und kleine Unternehmen geflossen. „Das sind 15 Prozent der Gesamtsumme der Phare-Gelder für diesen Bereich“, sagt Zuromski stolz. Doch auch er kann das schlechte Image der Stadt nicht verhehlen.

Statt des Kraken einen ICE

Zwar ist Lodz die zweitgrößte Stadt Polens, doch in Westeuropa kennt man nur noch den Schlager „Theo, wir fahrn nach Lodz!“. Es fährt allerdings kaum jemand. Attraktiver wirken die Städte Warschau, Krakau, Posen, Breslau, Danzig oder Lublin. Während der Industrialisierung war Lodz eine Stadt mit vier Kulturen, hier lebten Deutsche, Polen, Juden und Russen zusammen. Im Zweiten Weltkrieg benannten die Nazis Lodz in Litzmannstadt um und ermordeten die Juden im Ghetto. In der Nachkriegszeit verpasste die Stadt den Anschluss.

Auch in Polen genießt Lodz nicht den besten Ruf. Der „achtarmige Krake“ ist eine Mafiaorganisation, deren Chefs zwar im Gefängnis sitzen, aber – so geht die Mär – die Stadt noch immer fest in ihren Fängen halten. Und die Fans der beiden Lodzer Fussballvereine tragen mit antisemitischen Sprüchen zum schlechten Image der Stadt bei. Die Textilbranche in Lodz leidet Not, seit die Märkte in Osteuropa zusammengebrochen sind. Fabriken stehen leer, die Arbeitslosenquote ist mit 18 Prozent die höchste unter den Städten Polens. Die einzige Hoffnung sind die Autobahnpläne und der künftige ICE nach Warschau. Beides soll mit EU-Geld finanziert werden. Mit Hilfe Brüssels will Lodz endlich aus dem Schatten Warschaus treten und zur „Mitte Polens“ werden.

Apolonia Szepaniak lebt in einem windschiefen grünen Holzhaus in der Okregowastraße. „Ich bekomme 930 Złoty (232 Euro) Rente. Selbst wenn wir hier irgendwann Kanalisation bekommen sollten, könnte ich mir das doch gar nicht leisten.“ Die 80-Jährige ist schon glücklich, dass sie seit zwei Jahren fließendes Wasser hat, zwar nur kaltes, aber sie hat ja einen Kohleherd. „Da ist es im Haus warm, und heißes Wasser habe ich auch immer in einem großen Topf.“ Das Abwasser vom Spülen schleppt sie allerdings nicht mehr in Eimern raus. Ein Schlauch führt von der Küche bis zur Straße. Dort läuft alles in den Rinnstein. „Vielleicht“, sagt Apolonia Szepaniak, „kriegen wir ja hier auch richtige Toiletten, wenn wir der EU beitreten.“