Am Anfang war die Heizung

Baustelle in einer kleinen Wehrkirche in Bremerhaven-Wulsdorf: Archäologen kehren das unterste zu oberst und finden Kinderskelette, Münzen und Teile eines mindestens 1000 Jahre alten Topfes

„Sie stehen da auf schätzungsweise vier Toten“, sagt der Archäologe.

Hohlwangig sehen sie aus, die geschätzt 35-jährige Frau und ihr etwa 25 Jahre junger Begleiter an ihrer Seite. Sie liegen in einer einen Meter tiefen und etwa zwei mal zwei Meter langen Grube – seit ungefähr neunhundert Jahren. Ihre Knochen sind gebräunt, ein paar Zähne haben die beiden auch noch.

Betritt man die kleine dunkle St. Dionysius-Wehrkirche in Bremerhaven-Wulsdorf, könnte man direkt in das Ausgrabungsloch der Archäologen stolpern, wären da nicht die Strahler, die die freigelegten Erdschichten, Scherben und Knochen beleuchten. So kann man auf einem jüngeren Frauenschädel, den Grabungsleiter Dieter Bischop und seine Helfer in einer höher gelegenen Grabungsschicht gefunden haben, noch Haare erkennen.

In der Kirche herrscht Baustelle: Große Sand- und Erdhaufen machen sich breit, Altar und Kirchenbänke sind unter weißer Plastikfolie verschwunden. An mehreren Stellen arbeiten sich die Archäologen in die Tiefe. Eigentlich wollte die Gemeinde nur eine neue Heizung installieren lassen. Dafür musste der Boden aus Holz, Sandstein und im Altarraum aus Marmor angehoben und bei Seite geschafft werden. Die Chance nutzte der Hobby-Archäologe Egon Stuve und fing an, den freigelegten Sand durchzusieben. Schon nach kurzer Zeit stieß er auf Silbermünzen aus dem 14. Jahrhundert. Davon haben die Archäologen mittlerweile noch mehr gefunden: Sie sind nicht größer als Pfennige, auf einigen kann man problemlos den Bremer Schlüssel erkennen, auf anderen scheint ein Bischof abgebildet zu sein.

Skelette von kleinen Kindern haben die Archäologen nahe der dicken Außenmauer gefunden: Säuglinge und höchstens Einjährige, beerdigt ohne Sarg. Bischop vermutet, dass sie ungetauft waren, als sie starben. Der Fundort lag zu Zeiten, als hier noch eine kleinere Feldsteinkirche stand, außerhalb des Gemäuers. „Nicht getaufte Kinder begrub man nicht in der Kirche. Dann konnte der Regen sie noch ‚taufen‘“, erklärt er seine Überlegungen. Im Kirchenboden vermutet Grabungsleiter Bischop noch mehr Tote – regelrecht übereinander geschichtet. „Sie stehen da jetzt auf schätzungsweise vier Toten“, sagt er und deutet auf den Sand auf dem er selbst auch gerade steht.

Schädel und Skelette mögen für Laien das Aufregendste an diesen Ausgrabungen sein. Sie sind aber bei weitem nicht die ältesten Funde. Der Profi Bischop begeistert sich für das scheinbar Unspektakuläre, etwa die sichtbar gewordenen „Brandhorizonte“ in den frei gelegten Erdschichten. In rund fünfzig Zentimeter Tiefe, über den Köpfen des jung verstorbenen Paars, kann man auffallend schwarze und weiße Schichten erkennen. „Was aussieht wie Grillkohle, sind Reste von abgebrannten Kirchen, die hier gestanden haben, schätzungsweise aus dem zehnten bis zwölften Jahrhundert“, erklärt Bischop. Die alten Wulsdorfer scheinen ihre Kirche unverdrossen immer wieder an der selben Stelle aufgebaut zu haben, bis heute.

Zu den wichtigsten Zeugnissen, die Dieter Bischop hier entdeckt hat, gehört eine irdene Topfscherbe: Zuvor habe man nur halbwegs sicher behaupten können, dass an dieser Stelle seit dem 12. Jahrhundert eine Kirche gestanden habe, erkennbar an einem Kapitell im heutigen Altarraum, erklärt der Grabungsleiter. Der Name der Kirche – St. Dionysius – habe vermuten lassen, dass sie noch älter sein könnte. Das Stück Kugeltopf belegt es: „Die stammt mit Sicherheit aus dem zehnten Jahrhundert, vielleicht sogar aus dem neunten. Wenn das stimmen würde, wären wir in die Zeit der Karolinger angekommen“, sagt Bischop und in seiner Stimme klingt ein Anflug von Stolz mit. Möglicherweise hat die Zwangschristianisierung in Wulsdorf zum Bau der ersten Holzkirche am Jedutenberg geführt hat. Ulrike Bendrat