„Gestaltung ist keine Arithmetik“

Der Designer Jörg Hundertpfund im Interview zu den Schwierigkeiten der Formgebung in einer ausufernden Dingwelt: Der klassische methodische Ansatz, für ein gestalterisches Problem gebe es nur eine Lösung, sei so obsolet wie verantwortungslos

Interview MICHAEL KASISKE

taz: Wir sitzen hier im Café, vor uns stehen Tassen und Teller, rundherum Stühle und Tische. Die Welt ist bereits gestaltet. Wofür bilden Sie Designer aus?

Jörg Hundertpfund: Ich verstehe Design nicht als Entwicklung von immer gültigen und ultimativen Lösungen für Problemstellungen. Schließlich ist Gestaltung kein arithmetisches Thema. Ein Gegenstand ist vielleicht in manchen Grundzügen vorbestimmt, wie etwa die Anordnung einer Tastatur beim Rechner oder beim Telefon als Commonsense akzeptiert ist. Doch fortwährend sich verändernde Anwendungen schlagen sich in Haltung, Wertschätzung und schließlich im Erscheinungsbild nieder.

Könnten Sie ein Beispiel dafür nennen?

Ja, die letzte Version des PowerMac …

Der sieht doch grässlich aus!

Seine Gestaltung zeigt aber, dass sich die Nutzung von den rein professionellen Anforderungen abgewandt hat. Waren bislang alle Funktionen in einen Kasten gepackt, wird nun jedes Teil für sich gezeigt: der Flachbildschirm, durch ein bewegliches Metallrohr mit der Basis verbunden, die wiederum – ganz atypisch – eine Halbkugel ist.

Das klingt wie die Beschreibung einer wohlgeformten Blume in einer Vase.

Es ist auch so ähnlich. Die Erscheinung dieses Rechners drückt bereits aus, dass er von vielen inzwischen ausschließlich als das persönliche Portal ins Internet definiert wird und deshalb informell in den privaten vier Wänden wahrgenommen werden soll. Der Lifestyle-Appeal ist unverkennbar und unterscheidet sich damit deutlich von den konkurrierenden Produkten.

Lassen sich so auch die mannigfaltigen Variationen des Mobiltelefons erklären, bei dem sich an den Grundfunktionen Display und Tastenordnung kaum etwas geändert hat?

In der Tat halte ich die formale Varianz insbesondere elektronischer Medien, und hierzu zähle ich das Handy, für sehr eindimensional. Das Ironische ist, dass das Mobiltelefon auch eine einseitige Kommunikation zu fördern scheint. Neulich stand ich mit meinen Eltern am Hamburger Bahnhof, aus dem Menschen nach Ende einer Veranstaltung herausströmten, von denen die meisten sofort zum Telefon griffen. Mein Vater meinte: „Warum telefonieren die alle? Sie können sich doch direkt unterhalten.“ Das will ich mir merken, dachte ich, als Bild dafür, wie sich durch die Erfindung eines Gerätes unsere Kommunikationsgewohnheiten deutlich verändert haben, und zwar für alle verbindlich.

Wie meinen Sie das?

Es scheint, als sei die nur in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung „Handy“ für das Mobiltelefon eine Abkürzung für Handikap, die auf eine Art Störung hinweist, durch die das nahe liegende und unmittelbare Gespräch behindert und sogar in letzter Konsequenz verunmöglicht wird.

Anders gesagt: Vielleicht ist das intime „Face-to-face“-Gespräch nur noch über ein Gerät vermittelt denkbar. Dies würde auch die hohe Attraktivität der so genannten „Chatrooms“ im Internet erklären.

Beziehen Sie solche soziologischen Beobachtungen in die Lehre ein?

Die konventionelle Designgeschichte greift viel zu kurz, weil sie sich in der Regel auf den kunsthistorischen und vor allem retrospektiven Blick beschränkt. Die gegenwärtigen Entwicklungen und deren Kontext sind der Lebenswirklichkeit der Studenten viel näher. Im nächsten Semester will ich daher Seminare zur Stilforschung durchführen, die sich mit Gegenwartsstilen, insbesondere der Jugendkultur, auseinander setzen. Die aktuelle Sicht und die daraus resultierenden kulturellen Konsequenzen bedürfen einer Beurteilung und entsprechender Berücksichtigung bei der Formgebung.

Einen gesellschaftlichen Anspruch an die Gestaltung, wie ihn die Ulmer Schule vertritt, halte ich aber für bedeutend …

Zweifelsohne, das hatte auch einen tragenden Einfluss auf mich und meine Arbeit – vor allem durch den in Ulm ausgebildeten Hans „Nick“ Roericht, bei dem ich studiert und später als Lehrkraft gearbeitet habe.

sonst würden wir doch in einer immer mehr ausufernden Dingwelt untergehen.

Wir sollten zumindest versuchen zu verstehen, worin wir schwimmen. Ob das davor bewahrt, letztlich nicht darin zu ersaufen, vermag ich nicht zu beantworten. Ist das Handy nun Indiz für eine fortschrittliche Entwicklung oder wiegen die negativen Aspekte die des Nutzens auf? Wir haben zwar Einfluss auf die Gestaltung unserer Welt, sind aber weit davon entfernt, diese in aller Konsequenz zu steuern.

So werden wir von fragwürdigen Dingen überwuchert?

Ich denke, dass wir an einem Scheitelpunkt stehen oder ihn vielleicht sogar schon überschritten haben, wo wir mit der Masse an Produkten nicht mehr umgehen können. Der bis heute tragende Ansatz im Produktdesign „Es gibt ein Problem, und wir lösen dieses mit Gestaltung“ greift zu kurz und ist längst obsolet, wenn nicht gar verantwortungslos.

Mit jedem neuen Ding schaffen wir eine neue Situation und potenziell auch ein neues Problem. Ich denke häufig an den Zauberlehrling: Wir befinden uns in einer Situation, in der die Produktions- und Distributionsentwicklungen geradezu entfesselt sind und nur dem Paradigma steter Differenzierung und Beschleunigung gehorchen.

Was geben Sie den Studenten in dieser Situation mit auf den Weg?

Worauf ich in meinen Seminaren hinaus möchte, ist die geschärfte Aufmerksamkeit für die Dinge, die wir beiläufig und alltäglich benutzen, wie eben Mobiltelefone und Computer, um daraus eine der jeweiligen Situation zeitadäquate Haltung zu erarbeiten. Ob aus dieser Haltung immer auch Gestaltung, also ein Produkt werden muss, möchte ich dahingestellt lassen. Manchmal ist es besser, eine Entwicklung zu verhindern, wenn man deren Konsequenzen ahnt.

Wenn Sie Designer als Rationalisten darstellen, sind wir wieder bei der Ulmer Schule?

Nein, da ist das Gegenwartsdesign weiter. Daher lehre ich auch, dass wir uns zwar intensiv die Randbedingungen erarbeiten, diese jedoch lediglich als eine Möglichkeit unter vielen zur Basis für die Produktgestaltung machen, um dann den kreativen Schritt zu tun. Man wird auf eine gestalterische Fragestellung nie den gleichen Entwurf erhalten.

Wie schlägt sich das in Ihrer Entwurfsarbeit nieder?

Bei den Gebissbürsten, die ich für die Städtische Blindenanstalt entworfen habe, entwickelte sich das Zeichenhafte aus der kindlichen Erfahrung, dass zwei aufeinander gedrückte Bürsten aneinander haften, aufgrund dieser Eigenschaft ganz von selbst zueinander finden und deshalb auch beieinander bleiben. Das ist ein Einsprengsel Prosa, ein dem Objekt innewohnender, unsichtbarer Aspekt, mit dem es ins Leben getragen wird.