„Altfälle“ sollen bleiben dürfen

Zum Tag des Flüchtlings fordern deren Vertreter ein Bleiberecht für alle Menschen, die über fünf Jahre hier leben. Vielen „Geduldeten“ droht ab 1. Januar die Abschiebung

BERLIN taz ■ Wohl kein Satz wurde von Otto Schily so häufig wiederholt wie dieser: „Das Zuwanderungsgesetz wird nicht zu einer Erhöhung der Flüchtlingszahlen führen.“ Schließlich, erklärte der Innenminister wieder und wieder, werde mit der Duldung, in deren Besitz vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge sind, ein regelrechter „Pseudoaufenthaltstitel“ abgeschafft. Von den 250.000 Geduldeten soll nach dem 1. Januar 2003 nur bleiben dürfen, wer nachweislich nicht zurückkehren kann oder wer nicht staatlich oder geschlechtsspezifisch verfolgt wird. Alle anderen müssen sich eine „Bescheinigung zur Ausreise“ abholen.

Gegen die geplante massenhafte Rückführung von Menschen, die zum Teil seit über zehn Jahren hier leben, machen jetzt Nichtregierungsorganisationen mobil. Zum heutigen „Tag des Flüchtlings“ fordern Flüchtlingsräte und Pro Asyl eine Altfallregelung für jene 150.000 Menschen, die schon seit über fünf Jahren in Deutschland leben. Unter ihnen sind alleine über 85.000 Flüchtlinge, die zwischen 1991 und 1998 vor den Kriegswirren im ehemaligen Jugoslawien flohen. Außerdem 11.000 Türken, darunter viele Kurden, und über 4.000 Afghanen, die seit Jahren ohnehin nicht zurückgeführt werden. „Diese Menschen haben ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Ihre Kinder gehen hier zur Schule, wurden zum Teil hier geboren, sprechen nur Deutsch“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl: „Sie brauchen auch hier eine Perspektive.“

Am kommenden Donnerstag steht das Thema Zuwanderung auf dem Programm der Koalitionsverhandlungen. SPD und Grüne werden aufgefordert, das angestrebte Bleiberecht für Altfälle in die Koalitionsvereinbarung aufzunehmen. Will man das Zuwanderungspaket nicht wieder aufschnüren – und das will wohl in der Regierung niemand –, könnte damit an die Länder appelliert werden, bei ihrer nächsten Innenministerkonferenz Anfang Dezember einen entsprechenden Beschluss zu fassen.

Auch wenn es keine Altfall-Regelung geben sollte, wird ein großer Teil der Geduldeten wohl nicht am 2. Januar 2003 freiwillig in den Zug in die einstige Heimat steigen. Stattdessen dürften die meisten versuchen, als so genannter Härtefall zu bleiben. Das Zuwanderungsgesetz stellt den Ländern anheim, Härtefallkommissionen einzurichten, die die Ausländerbehörden auffordern können, auch abgelehnten Asylbewerbern ein Bleiberecht zu erteilen.

Der Niedersächsische Flüchtlingsrat warnt nun davor, dass diese geradezu überschüttet werden könnten. Dann, sagt Kai Weber, „hat man genau das, was man nicht will: eine völlige Überlastung dieser Einrichtung mit zigtausenden Einzelfällen.“

Mit den Härtefallkommissionen wurde ein Institut ins Zuwanderungsgesetz aufgenommen, das es in einigen Ländern wie Berlin oder Nordrhein-Westfalen bereits gibt. Besetzt mit Vertretern der Innenministerien, Kirchen, Wohlfahrts- und Flüchtlingsorganisationen sollen sie sich in Ausnahmefällen für Menschen einsetzen können, für die eine Rückkehr unzumutbar ist oder die in ihre deutsche (Neu-)Heimat so integriert sind, dass es völlig absurd wäre, sie hier zu entwurzeln. Allerdings können die Kommissionen nur tätig werden, wo sie eingerichtet werden: Bayern und Sachsen haben bereits angekündigt, auf sie verzichten zu wollen.

JEANNETTE GODDAR