Apokalypse

Theater Wrede lässt die Zuschauer mitrichten: in Krohns zynischem Werk von den „vier Flüssen Manhattans“

Die roten Pillen schmecken süß, sehr süß und bitter künstlich. Wir sind Voyeure und vor unseren Augen siechen vier Frauen in sengender Hitze in einem gut bewachten Camp. Wir dürfen entscheiden, ob Dijon, die Pissende, bleiben soll oder gehen darf. „Wenn sie bleiben soll, essen sie die roten Pillen, wenn sie gehen darf, die Grünen“.

Sie stecken in einem Umschlag mit „Juryunterlagen“. Das Oldenburger „Theater Wrede“ inszeniert Tim Krohns zynisch-ironisches Mammutwerk „Die apokalyptische Show von den vier Flüssen Manhattans“ – ein ziemliches Wagnis, gilt doch die Vorlage des Schweizer Pen-Club-Vorsitzenden als unspielbar.

Die Inszenierung belehrt eines Besseren. Manhattan im Jahr 2030 nach der großen Flut. Jetzt herrscht sengende Hitze im globalen Sommer. Die Normexistenz bewegt sich nicht zu schnell, weint nicht, schwitzt nicht und kommt daher mit 5,14 Liter Wasser pro Tag aus, eine Stange Kot darf sie täglich absondern.

Doch vier Frauen fallen aus dieser Norm. Guadalquivir (Marga Koop), einst Lektorin, kotzt mit Brocken von Lyrik und Prosa ständig ihren Mageninhalt in einen Kübel. Die Schwitzende (Eva Kölling): „moribunde Hausfrau“, sie transpiriert ihr Leben aus, ihre ungewagten Träume. Die Tränende (Petra Oetken): sehnsüchtelt vom Meer und vom Traummann, trägt rote Unterwäsche und flennt ständig. Und schließlich: Dijon (Danielle Ana Flüglistaler), die „blühende Vierundzwanzigjährige“, die ständig und überall pissen muss, tänzelnd, hyperaktiv. Ihre Beziehung zum Wasser wird für die Frauen zur eigentlichen Identität in einer Ordnung, die vom Verhältnis zum kostbaren Nass bestimmt wird.

Angeblich haben die Frauen eine Petition eingegeben, über die Manhattan jetzt abstimmt: Dem Willen zur Sterbehilfe soll stattgegeben werden, wenn sie die Gesellschaft mit ihrem übermäßigen Verbrauch an Flüssigkeit nicht mehr belasten wollen. Und als die Schwitzende ganz von selbst aus dem Leben scheidet und im geschlossenen System zu Flüssigkeit recycelt wird, erscheint die Repräsentantin des Senators, um den Dienst an der Allgemeinheit zu preisen.

Man möchte tatsächlich kotzen und heulen, und man kommt ins Schwitzen in dieser grotesken, apokalyptischen Show, wenn Dijon ein liebendes Tänzchen wagt mit der Leiche der Schwitzenden; wenn heroische Jubelfeiern abgehalten werden zur Verkündung der Abstimmung über die gefälschte Petition. Beklemmung, wenn die kleine, patriotische Praktikantin Joy, das cleane Cheerleader-Girl, sich zu den Frauen begibt, zu leben wagt, Zärtlichkeit erlebt, feuchte Lebenslust, schließlich vom Bauch der Sterbenden den gesammelten Schweiß schlürft, um erschrocken in die Norm-Existenz zurückzufliehen.

Das Wasser, die Körpersäfte, das Unkontrollierte: Das ist das Leben, das es draußen in Manhattan nicht mehr gibt. Als ironischer Kommentar laufen auf Bildschirmen Filmausschnitte, in denen sterbenden Leinwandhelden von einsamen Trappern in der amerikanischen Steppe aus der Feldflasche letzte Tropfen des kostbaren Nass eingetröpfelt werden. Witzig, hie und da auch störend für die schauspielerische Spannung des Spiels.

Die verlogene Moralität des amerikanischen Traumes wird in „Manhattan“ mutig zerrissen.

Marijke Gerwin

Morgen und am 21.9. (jeweils 20 Uhr) im Oldenburger Theater Wrede, Rosenstraße 2, sowie am 20., 22. und 23.11.