strübel & passig
: Die Entscheidung

Mein Vater war Spezialdemokrat. Wenn man der Überlieferung glauben darf, waren die ersten Worte, die ich als Kind sprach „Mama, Gewerkschaft, SPD“. Andere Quellen behaupten, dass ich bereits davor „Papa“ gerufen haben soll, wenn im Fernsehen Willy Brandt auftauchte. Möglich wär’s: Schließlich wurde ich von Geburt an täglich vor die „Tagesschau“ gesetzt. Und Wahlkampf war in meiner Kindheit vergleichbar mit Jahrmarkt. Es dauerte nur länger und kostete nichts. Dafür, dass ich am Stand niedlich aussah und Fähnchen verteilte, erhielt ich Anstecker und Luftballons und Aufkleber, mehr als ich essen konnte. Wen wundert es also, dass ich auch als Erwachsene Wahlkampf aufregend finde. Schließlich wurde im pawlowschen Sinne ganze Arbeit geleistet. Trotzdem habe ich es nie übers Herz gebracht, mich einer Partei anzuschließen.

 Aber das muss man ja auch nicht mehr. Selbst wenn man nicht einen Schritt vor die Tür macht, kann man nun politisch tätig werden. Und wie sie glänzt und funkelt, die Wahl im Internet! Nicht nur haben sich die Kanzlerkandidaten unter www.stoiber.de und www.gerhard-schroeder.de schicke Websites geleistet. Auch jenseits der beiden Großen findet sich allerlei Erbauliches: Helga Zepp-Larouche, First Lady der EAP, und ihr sich selbst hartnäckig als Staatsmann und Wissenschaftler bezeichnender Gatte Lyndon etwa bieten unter www.bueso.de alles auf, was Satiriker nicht zu schreiben wagen: Mit ihrem „Ich weiß, was zu tun ist!“ schlägt sie Stoibers „Zeit für Taten“ um Längen. Auch bei den Grauen ist kaum noch eine Parodie möglich. Zuspruch suche ich bei den Bibeltreuen Christen unter www.pbc.de, doch scheitere ich kläglich daran, dass ich die Frage „Jesus oder Muhammad?“ für eine Fangfrage halte und die Antwort verweigere. Beim Nachlesen stelle ich fest, dass die PBC so ziemlich alles ablehnt, was mir Spaß macht. Mist. Geh ich eben zu www.die-frauen.de, da dürfte rein biologisch eine gemeinsame Basis gegeben sein. Als ich von deren Forderung nach einer „Ökofeministischen Weltinnenpolitik“ lese, dauert es einen Moment, bis ich begreife, dass es dabei nicht um die politisch korrekte Form des Begriffs „Welt“ geht.

 Am interessantesten aber sind die privatpolitischen Orte: die Foren und Anti-und-Pro-Websites. Freudig erkenne ich, dass ich mit meinem Bedürfnis nach dem privaten Wahlkampf nicht alleine bin: auf beiden Seiten der Front wird alles gegeben von www.stoppt-stoiber.de bis zu www.schroeder-muss-weg.de. Zwar ist dort kein Impressum erreichbar und der letzte Stand ist der neunte Juni – nichtsdestotrotz ist man sich sicher: wer Schröder wählt, wählt SPD. Und wie gottlos das ist, mahnt das Pop-up an, das uns darüber informiert, dass Schröder beim Amtseid auf das „So wahr mir Gott helfe“ verzichtet hat.

 Da kann ich nicht länger an mich halten. Mit Drohungen („Wenn Stoiber gewinnt, wird alles verboten, was euch im Internet interessiert“) und Versprechungen („Wenn Schröder gewinnt, gibt’s Taschengelderhöhungen und freie Liebe“) zwinge ich die unpolitische Frau Passig und eine Hand voll mir höriger Männer, mir aus Hasendraht und alten Zeitungen eine Wahlkampf-Website zu basteln. Und kaum geht sie online, da schnellen die SPD-Zahlen in die Höhe. Nichts zu danken! Ich hab’s für Mama, Gewerkschaft und SPD getan. IRA STRÜBEL

ira@copysquad.com