Auf Plakaten, hinter Gittern

Dichter, reicht euch die Hände: In Berlin findet nun bereits zum zweiten Mal das Internationale Literaturfestival statt

Vermutlich darf man sogar wieder Goethe zitieren. „Die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“, teilte der Dichter am 31. Januar 1827 Eckermann mit.

Leider durfte Goethe nicht mehr erleben, wie knapp 180 Jahre später mit dem „Internationalen Literaturfestival Berlin“ die Beschleunigung der Epoche der Weltliteratur ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: Bereits zum zweiten Mal sind für eine Dauer von zehn Tagen 150 Autoren aus aller Welt in 200 Lesungen vom Nachmittag bis Mitternacht mit nichts anderem beschäftigt, als mit „authentischer Stimme“ zu sprechen, den „Reichtum der Verschiedenheit“ zu demonstrieren und „die Erfahrungen vieler Sprachen, Traditionen und Kulturen zugänglich“ zu machen, wie Festivalleiter Ulrich Schreiber auf der Eröffnungsveranstaltung im Berliner Ensemble freudestrahlend versicherte.

Die Gegenwart ist bekanntlich beherrscht von ethnischen, religiösen und politischen Zerwürfnissen. Doch, wie Goethe schon sagte, der Schriftsteller findet das „Vaterland seiner poetischen Kräfte“ im „Guten, Edlen und Schönen, das an kein besonderes Land gebunden ist“. Heute müsste man hinzufügen, dass dieses Vaterland einzig an die Einladung zu einer der unzähligen Literaturtage oder Poesienächte, zu einem der PEN-Kongresse oder Lettre-Symposien gebunden ist, die über das Jahr hinweg stattfinden: Dichter, reicht euch die Hände über den Lesepulten und Konferenztischen.

Im vergangenen Jahr war die Frage laut geworden worden, ob Berlin ein Literaturfestival nun eigentlich brauche. Inzwischen scheint die Antwort endgültig festzustehen. Nicht Berlin, nein, die Welt braucht diese Veranstaltung! Wenn also morgen die versammelten Berichtererstatter zur Pressekonferenz einbestellt werden, um eine „Zwischenbilanz“ des Festivals zu ziehen, wird diese vermutlich zufrieden stellend ausfallen. In den ersten Tagen des Festivals nämlich konnte man während der Lesungen und Diskussionsveranstaltungen allerhand beruhigende Nachrichten aus Goethes und unser aller „Vaterland der poetischen Kräfte“ hören.

So lebten einst in Andalusien Muslime, Christen und Juden friedlich miteinander (Tariq Ali), der Islam ist in keinem Fall auf den Fundamentalismus zu reduzieren (Dzevad Karahasan), und auch die Deutschen haben ihre Fehler (Hendryk M. Broder). Zudem hat auch jeder Besucher das auf Transparenten ausgehängte Gedicht des aus Marokko nach Frankreich emigrierten Tahar Ben Jelloun oft genug gelesen, um seinen tieferen Sinn zu verstehen. „In meinem Land / leiht man nicht, / man teilt“, dichtet Jelloun, der ansonsten Kindern die Angst vor Muslimen nimmt: „Gibt man ihn zurück / ist der Teller niemals leer; / Brot / ein paar Bohnen / eine Prise Salz.“

Diese Überzeugung – dass in den von Armut, Diktatur und Folter beherrschten Ländern der Erde das Gute im Menschen deutlicher zutage tritt als hierzulande – ist es offenbar, die für den gar nicht so ganz geringen Zuspruch sorgt, den das Literaturfestival mit seinen plakativen (und großflächig plakatierten) Botschaften erfährt. Im Anschluss an den 11. September hat nicht nur die Rede vom Bösen Konjunktur, sondern auch das Bekenntnis zum Gutgemeinten.

In den Kurzbiografien der Autoren und Autorinnen ist viel von Bürgerkrieg und Gefängnis, Emigration und politischem Engagement zu lesen. Solche auf tragische Art erfahrungsgesättigten Lebensläufe erfahren beinahe mehr Aufmerksamkeit als die Bücher, aus denen die geladenen Gäste vortragen. „Literaturen der Welt“ nennt sich die größte Abteilung des Berliner Festivals, und weil es mehr um die hässliche Welt als um die schöne Literatur geht, weiß man zuletzt schon gar nicht mehr, wie eigentlich ein Norman Ohler („geb. 1970 in Zweibrücken/Pfalz“) in diese Runde geraten ist – oder ein Richard Ford: „1944 in Jackson/Mississippi geboren“ und „einer der bedeutendsten Autoren der Vereinigten Staaten“. Ja, und?

Der Hunger nach Einzelschicksalen und außergewöhnlichen Erfahrungen, der Veranstalter, Publikum und vielleicht auch einen Teil der Gäste antreibt, führt zu durchaus kuriosen Begebenheiten. Die Lesung „Literatur hinter Gittern“ zum Beispiel, die ihren Aufführungsort in der Justizvollzugsanstalt Moabit fand, war als einzige Veranstaltung seit Monaten ausverkauft. Das nächste Mal solle man sich unbedingt einige Monate vorher anmelden, teilte einer der hauptamtlichen Organisatoren des Festivals mit, das ansonsten vor allem von einer Hundertschaft von Praktikantinnen vorbereitet wurde – Germanistikstudentinnen, die gerne auch ohne Honorar „Erfahrungen sammeln“, wie man so sagt.

In unserem Land nämlich bezahlt man nicht, man teilt die Arbeit einfach unter denen auf, die keine Forderungen stellen. Zu ihnen gehört auch der junge Mann, der eine „literarische Stadtführung“ vorbereitet und geleitet hat, ohne dafür einen einzigen Cent zu bekommen. Er sei Grafikdesigner, sagt er, seit längerem arbeitslos. In seinem Gesicht liest man: „Ich mache alles.“

Wenigstens haben wir in Deutschland keinen Bürgerkrieg. Auch das ist eines der warmen Gefühle, mit denen man nun der zweiten Hälfte des Literaturfestival entgegensieht.

KOLJA MENSING