Vitamin B-52 hält Afghanistan zusammen

In Afghanistan begrenzen die Militäraktionen der USA das Wiederaufflammen der Konflikte. Noch. Sie blockieren aber auch die im Bonner Abkommen vorgesehene demokratische Entwicklung des kriegszerstörten Landes. Jetzt herrscht die Sorge, das Land könnte erneut international vergessen werden

aus Kabul JAN HELLER

Anfang September 2001 in Islamabad: Gesandte afghanischer Gruppen klopfen an die Türen von Botschaften und der Vertretung der Vereinten Nationen. Unter den Afghanen sind Taliban, die der wachsende Einfluss der Araber um Ussama Bin Laden und des pakistanischen Geheimdienstes auf ihren Anführer Mullah Mohammed Omar stört, aber auch Leute des Warlords Patscha Khan Sadran aus der Ostprovinz Paktia. Alle haben eine Botschaft: Die Taliban müssen weg.

Auch Patscha Khan – der drei Monate später bei der Bonner Afghanistan-Konferenz in der royalistischen Rom-Gruppe sitzt und als Einziger Kämpfer im Land selbst befehligt – hat einen Plan: Krieger aller wichtigen Paschtunen-Stämme im Südosten Afghanistans sind bereit zum Aufstand. Zunächst wollen sie die Stadt Khost samt Flughafen einnehmen und dort einen Landeplatz für den Ex-König Mohammed Sahir Schah oder eines seiner Familienmitglieder bereitstellen.

Die Regierungen im Westen sollen dann den König als Staatsoberhaupt offiziell anerkennen, den Rest würden Patscha Khans Kämpfer besorgen. Wie 1929, als die Stämme Paktias einen Usurpator vom Kabuler Thron vertrieben, wollen sie erneut auf die Hauptstadt marschieren. Laut Patscha Khan sei das nur „eine Sache von 15 Tagen“. Außer der Zusage internationaler Anerkennung brauche er nur ein paar Lebensmittel für seine Leute. Doch die Mission bleibt ohne Resultat. Während die UNO die falsche Adresse für einen „Regimewechsel“ ist, treffen die Afghanen auch sonst nur auf kühle Ablehnung. Trotz weltweiter Entrüstung über die menschen- und insbesondere frauenfeindliche Politik der Ultraislamisten herrscht kein Bedarf an solch einer Aktion.

Bereits Monate zuvor wurden hohe Taliban-Offizielle in Paris empfangen, und Italiens Vizeaußenminister besuchte Kabul – statt alle offiziellen Kontakte der UNO zu überlassen und damit die seit Ende 2000 gültigen UN-Sanktionen zu unterstreichen.

Auch die USA halten Kontakt zu den Taliban, vor allem um Druck wegen Bin Laden zu machen, dessen Auslieferung sie seit den Anschlägen in Ostafrika 1998 und auf die USS Cole in Aden 2000 verlangen. Washington winkt mit diplomatischen Beziehungen. Höchstes Gebot der Taliban ist, Bin Laden – wie von den USA verlangt – vor ein Gericht zu stellen, allerdings nur vor ein muslimisches. Das ist für Washington inakzeptabel. Die Situation ist verfahren. Business as usual in Afghanistan. Dass sich „die Welt“ nicht sehr für sie interessiert, wissen die Afghanen. Schon mindestens zweimal hat der Westen ihr Land in einem halb gelösten Konflikt allein und damit in eine schlimmere Krise als zuvor abgleiten lassen: 1989 und von 1992 bis 1994.

Im Februar 1989 verlassen die letzten Sowjettruppen Afghanistan nach zehnjähriger Besatzung. In Kabul herrscht Präsident Nadschibullah, ein Ex-Geheimdienstchef mit blutigen Händen. Aber Nadschib ist auch „Gorbatschowist“. Im Windschatten der Perestroika sorgt er in Afghanistan für eine politische Öffnung und lässt eine halbwegs freie Presse und Ansätze von Parteienpluralismus zu. Doch noch herrscht Kalter Krieg. Niemand im Westen nimmt Nadschib und seinen Kurs der „Nationalen Versöhnung“ beim Wort.

Im Frühjahr 1992 regiert er immer noch. Inzwischen ist die UdSSR zusammengebrochen, Nadschibs Regime bröckelt. Geheimverhandlungen über eine Machtübergabe an Königstreue und gemäßigte Mudschaheddin führen zur Bildung eines gemischten Kabinetts. Doch innerafghanische Turbulenzen sowie Washingtons Weigerung, einer Beteiligung von Nadschibs Partei im Übergangskabinett zuzustimmen, lassen den Deal platzen. Die Mudschaheddin marschieren in Kabul ein – und kämpfen bald gegeneinander blutig um die Macht. Der Westen zieht sich zurück, der Wiederaufbau scheitert aus Geldmangel.

Dabei ist das „Chaos“ auch Resultat westlicher Inkonsequenz. Vor allem Washington war nur am Abzug der Sowjets aus Afghanistan interessiert; niemand verpflichtete die zuvor mit Milliarden Dollar subventionierten Mudschaheddin, konstruktive Rezepte zu entwickeln. Schon während des Dschihad gegen die Sowjets beging der Westen einen schweren Fehler. Obwohl der Widerstand anfangs über große ideologische Breite verfügte, wurden nur die Islamisten unterstützt, deren antiwestliche Haltung schon damals kein Geheimnis war. Am Widerstand beteiligte demokratische und linke Gruppen gerieten zwischen den Amboss der Sowjets und den Hammer der Islamisten. Als die Mudschaheddin und später die Taliban die Weichen in Richtung Vergangenheit stellten, war keine Gegenkraft mehr vorhanden.

Dürre und Buddhas

Es folgen zehn Jahre weltweiten Nichtbeachtung Afghanistans, auch auf humanitärem Gebiet. Als Ende der Neunzigerjahre eine mehrjährige Dürre die Ernten vernichtet, bekommen UNO und Nichtregierungsorganisationen kaum die Gelder für grundlegendste Nothilfe.

Es dauert bis zum März 2001, als die berühmten Buddhas von Bamiyan zerstört wurden, dass die Welt wieder Notiz vom Schreckensregime der Taliban nimmt. Doch erst nach deren Sturz folgen Hilfszusagen, die dem Bedarf entsprechen.

Ein Jahr nach dem 11. September und zehn Monate nach dem Fall der Taliban steht Afghanistans Friedensprozess mangels ausreichender internationaler Unterstützung wieder einmal auf des Messers Schneide. Und das trotz rhetorischen Dauerfeuers: „Wir werden Afghanistan nicht noch einmal verlassen“ (Tony Blair) und „Unsere Truppen werden bleiben“ (Bush nach dem Anschlag auf Hamid Karsai in der vergangenen Woche).

Immerhin ließen die USA zuletzt erkennen, dass sie sich jetzt doch am „Nation Building“ beteiligen wollen und sogar einer Mandatserweiterung für die internationale Friedenstruppe über Kabul hinaus zustimmen könnten, wenn sich genug Interessenten finden, was Monate dauern wird. Das ist ein indirektes Eingeständnis von Fehlern, kommt aber zu spät.

Das langsame Eintreffen der Hilfsgelder und damit ausbleibende positive Änderungen im Alltag des übergroßen Teils der Bevölkerung, vor allem außerhalb Kabuls, untergräbt den Friedensprozess weiter. Und während die Bush-Administration noch Karsais Hand schüttelt, schielt sie schon in Richtung Irak. Ein Krieg dort wäre für Afghanistan eine Katastrophe. Mit den USA fiele dann wohl der größte einzelne Geldgeber aus.

Auch Europa könnte sich einem Engagement kaum entziehen, was Afghanistan weiterer bereits zugesagter Mittel berauben würde. Gleichzeitig würde das Feld wieder frei für die Nachbarländer, vor allem Pakistan und Iran, die seit Ende des Kolonialismus in dieser Region um die Vorherrschaft in Afghanistan ringen. Die Geheimdienste beider Länder haben ihre Einmischung in Afghanistan ohnehin nie eingestellt. Im Loja-Dschirga-Wahlprozess ließen sie Geld und Waffen an ihre jeweiligen Klienten fließen, um genehme Kandidaten durchzusetzen. Dabei fühlt sich Teheran derzeit im Aufwind. Es stand im Kampf gegen die Taliban auf der richtigen Seite, während Pakistan mit seiner Hofierung der Taliban komplett Schiffbruch erlitten hatte.

Teheran verfügt über ausgezeichnete Beziehungen zu den meisten Fraktionen der siegreichen Nordallianz. Und hat bis zum Frühjahr den Extremfundamentalisten Gulbuddin Hekmatjar beherbergt. Der knüpft derzeit sein Dschihad-Netzwerk neu, verfügt aber auch über Verbindungen ins Regierungslager. Verteidigungsminister Fahim ernannte mehrere Hekmatjar-Leute zu Provinzgouverneuren. Kaum ein Beobachter legt seine Hand dafür ins Feuer, dass Hekmatjars Beziehungen nach Teheran völlig abgerissen sind.

Iran, China, Russland

Eine andere regionale Allianz, die Iran mit Russland und möglicherweise sogar China verbindet, formt sich aus Sorge vor einer Militärpräsenz der USA in der Region. Diese verfügen seit dem 11. September nicht nur mit den Flughäfen Bagram und Kandahar über Stützpunkte in Afghanistan, die Basen im Krieg gegen den Irak sein könnten, sondern auch in Usbekistan und Kirgistan, also auf ehemals sowjetischem Territorium. Das war noch vor einem Jahr undenkbar.

Karsais neuer Innenminister Wardak äußerte unlängst intern, Russland wolle den USA in Afghanistan „ein zweites Vietnam“ bescheren. Vielleicht nicht Putin persönlich, doch viele in Armee und Geheimdiensten, die der verlorenen Supermachtrolle nachtrauern und sich rächen wollen für die Schmach, die den Sowjets in Afghanistan von den USA und ihren Gotteskriegern zugefügt wurde. Dem steht auch nicht entgegen, dass alle diese Staaten in unterschiedlichem Maße zur weltweiten Antiterrorallianz gehören. Selbst Iran lieferte ja kürzlich Al-Qaida-Aktivisten an Saudi-Arabien aus.

Ob sich die negativen Tendenzen verfestigen, hängt von der internationalen Gemeinschaft ab. Sie übernahm mit dem Bonner Abkommen die Verpflichtung, Afghanistans Weg in eine demokratischere, pluralistische Zukunft zu überwachen und dafür zu sorgen, dass die Afghanen 2004 in freien Wahlen über ihre Zukunft bestimmen können. Dafür bedarf es mehr Drucks auf die Warlords und die Interimsregierung, den entsprechenden Rahmen zu schaffen. Das hat nichts damit zu tun, dem Land „westliche Werte“ aufzuzwingen, wie Islamisten in Kabul behaupten. So viel („Kollateral“-) Schaden die US-Truppen auch angerichtet haben – noch ist die Bevölkerung nicht gegen sie eingestellt. Fragt man Afghanen, was die Fundamentalisten am Losschlagen und die Nachbarstaaten an offener Einmischung hindert, dann folgt meist eine kreisende Handbewegung gen Himmel: „Vitamin B-52“, wie ein verbreiteter Witz in Anspielung auf die US-Bomber lautet.