Bronzen das Laub, silbern die Stämme

Der Hainich in Thüringen gilt als Europas größter geschlossener Laubwald. Hier bekommen Wanderer eine Vorstellung davon, wie vielfältig Wälder früher einmal waren. Im Herbst lodern die verschiedenen Buchen-, Linden- und Ahornarten, die Ulmen, Eichen, Eiben und Eschen wie ein Buschfeuer auf

von STEFAN SCHOMANN

Ein betörend klarer Oktobermorgen im Talgrund von Hütscheroda, der Himmel auf Hochglanz poliert, die Luft würzig, nach Erde, Zwiebeln und Fallobst duftend, die Wiesen von fein gewirkten Nebellaken bedeckt und der Wald eine Pracht. Ein kolorierter Rausch, ein Amoklauf der Farben.

Der Hainich gilt als Europas größter geschlossener Laubwald. Keine Straße, keine Stromleitung, keine Bahnlinie durchschneidet Deutschlands jüngsten und wohl auch unbekanntesten Nationalpark. Obwohl der lang gestreckte Höhenzug im Herzen Thüringens liegt, wirkt er eigentümlich abgeschieden. Gleich von welcher Seite man anreist, stets hat man den Eindruck, sich einem Ende, einer Grenze anzunähern. Wo die Infrastruktur aufhört, da fängt die Natur an.

Dabei handelt es sich keineswegs um unberührte Wildnis. Weite Teile des etwa 15.000 Hektar großen Hainichs wurden vielmehr über Jahrhunderte als Stadtwald des nahen Mühlhausen genutzt, aber eben zugleich auch geschont, als eine stille, sich langsam vermehrende Reserve.

So blieb eine uralte Kulturlandschaft weitgehend unversehrt erhalten. Sie vermittelt eine Vorstellung davon, wie reichhaltig Mitteleuropas Wälder früher einmal ausgestattet waren. Die südliche Hälfte umfasst heute der Nationalpark, der wiederum das Kernstück des Naturparks Eichsfeld-Hainich-Werratal bildet.

Von Hütscheroda aus schlängelt sich ein schmaler Weg leicht ansteigend auf das gelbgrünrotbraune Farbenmeer zu. Am Waldrand angekommen, erkennt man erst die Vielzahl der Bausteine, aus denen sich dieses botanische Mosaik zusammensetzt. Im Herbst lodern die verschiedenen Buchen-, Linden- und Ahornarten, die Ulmen, Eichen, Eiben und Eschen regelrecht auf.

Während der Wald auf dem Kamm eine kompakte Masse bildet, franst er an den Rändern in ein Patchwork aus Kulturland, Heide und Jungwald aus, mit kleinen Hecken, verwilderten Obstgärten und aufgelassenen Heuwiesen. Im Süden erstreckt sich außerdem das savannenartige Freiland eines einstigen Truppenübungsplatzes, dessen Schießbahnen und Schützengräben die Natur nun zurückerobert, wobei die Wacholderbüsche wie eine getarnte Kompanie vorrücken. Hier gedeihen zahlreiche Orchideenarten, dazu Enzian und Silberdisteln.

Ist die Übergangszone durchquert, betritt man den stillen Dämmerraum des Waldes. 300 Jahre alte, kaum angetastete Buchenbestände ragen empor, mit stattlichen, vom Wind geföhnten Kronen. Sie zerstäuben das Licht in feinste Partikel, sodass alles seidig schimmert: bronzen das Laub, silbern die Stämme, golden die Blätter. Im Halbschatten funkelt zwischen Farnen und Beerensträuchern eine botanische Kostbarkeit: eine Türkenbundlilie. Im Frühjahr bedecken hier Bärlauchteppiche ganze Hänge und erfüllen den Wald mit ihrem knoblauchähnlichen Geruch.

Zu den Stars der Tierwelt zählen die Wildkatzen, die freilich selbst Förster und Forscher nur selten zu Gesicht bekommen. Dankbarer zeigen sich da die Vögel: Nicht weniger als 135 Arten tummeln sich in und über dem Hainich, darunter Schwarzstorch, Rotmilan und seltene Spechte. Die nahe Vogelschutzwarte Seebach, die Wiege der deutschen Ornithologie, betreibt hier nach wie vor rege Naturschutz- und Forschungsarbeit.

Auch wer den ganzen Tag lang durch den Wald streift, bekommt nicht zu viel davon, denn zwischendurch lockern immer wieder Lichtungen oder Wiesenzungen die kompakte Masse auf. Noch summen die Bienen, doch schon mit halber Kraft, noch gaukeln Falter über die Sonnenhänge, aber viele sind es nicht mehr. Der Hainich im Herbst – eine schwelgerische Abschiedssinfonie, ein letztes Auskosten der guten Jahreszeit. Wenn der Wald dann im Winter in Weiß gehüllt ist, geht es auf Pferdeschlitten hindurch. Ein Paradies für Schwärmer und für Fotografen.