Pultstar im Märchenland

Heute tritt Sir Simon Rattle sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker an. Er wird der Erste unter Gleichen sein. Der Engländer wuchert mit seiner Ausstrahlung auf Publikum und Orchester

von CHRISTIANE TEWINKEL

So dicht ist es nirgends. In London treten sich Dirigenten und Orchester vielleicht auch auf die Füße – dafür hat man dort aber das Spezialproblem der innernationalen Teilung nicht gehabt. Und man hat für die Konkurrenzsituation womöglich länger trainieren können.

London hat es also einfacher, in Berlin dagegen gibt es sieben große Symphoniorchester. Zu den sieben Orchestern gehören sieben künstlerische Leiter. Das bedeutet nicht, dass nicht manchmal noch Gastdirigenten, vielleicht sogar Gastdirigentinnen angeheuert werden. Aber für diesmal, für die Klarheit also, bleiben es sieben Dirigenten, die je nach Glamour, Laune und Arbeitswille mehr oder weniger in Berlin ansässig sind und hier mit ihren Ensembles auftreten.

Sir Simon Rattle ist einer von ihnen. Genauer gesagt, beginnt er heute Abend damit, der Erste unter Gleichen zu sein. Mittlerweile ist es drei Jahre her, dass sich die Berliner Philharmoniker in geheimer Abstimmung für den 1955 geborenen Engländer als Nachfolger von Claudio Abbado entschieden haben. Angefragt hatten sie zwar schon fast zehn Jahre zuvor – damals konnte sich der junge Rattle, der das City of Birmingham Symphony Orchestra in jahrelanger Aufbauarbeit zu weltweitem Ruhm gebracht hatte, vor Stellenangeboten kaum retten. Rattle zog es aber vor, zu Hause zu bleiben und weiterzuproben. 1991 baute man ihm in Birmingham dankbar eine Symphony Hall, und wenige Jahre später wurde er von der Königin geadelt.

Seit langem gilt Rattle als der eleganteste, feinsinnigste, sonnigste und daher auch besonders innovative unter den internationalen Pultstars der jüngeren Generation. Und wenn es in diesen Tagen an jeder Bushaltestelle maisgelb leuchtet und dazu Sir Simon bewillkommnet wird, dann ist das einerseits eine ansprechende PR-Maßnahme. Andererseits wuchert man damit aber auch ganz wirklichkeitsnah mit der Ausstrahlung des Dirigenten auf Publikum und Orchester. Sir Simon dirigiert nämlich, als ob er eben, in dem Moment, jetzt gerade, wie man ihm zusieht und zuhört, das musikalische Märchenland neu betritt: mit Staunen und Wundern und total aufregend.

Damit ist es allerdings nicht getan – noch nicht einmal bei den Berliner Philharmonikern. So gut wie kein E-Musik-Orchester kann es sich heute noch leisten, am größten Problem des Klassikbetriebs vorbeizusehen: dem alternden Publikum. Wer da nicht massiv auf die Jugend setzt, dem stirbt es in zwanzig, dreißig Jahren schlicht aus. Und sowieso: Sind die Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin bereit, für die Versorgung eines winzigen Bevölkerungsausschnitts mit musikalischer Hochkultur Steuern zu zahlen, die in umfangreiche Subventionen umgewidmet werden? Wie steht es überhaupt mit der Zukunft der klassischen Musik, wenn scheinbar niemand sie noch live hören mag?

Rattle wird nicht nur der Erste unter Gleichen sein, sein Orchester hat sich auch die brachialsten Maßnahmen ausgedacht, um die Musik wieder unters Volk zu bringen. Man müsse weg von der alten Mentalität, heißt es im Tiergarten spätestens seit Franz Xaver Ohnesorgs Bestellung zum Intendanten im vorvergangenen Winter. „Wir dürfen nicht“, sagt auch Rattle, „hinter dem Schalter sitzen bleiben und warten, dass die Leute kommen.“ Der Einfluss aus New York, wo Ohnesorg, und aus England, wo Rattle tätig war, ist der kommenden Saison anzumerken. Mit ausgedehnten Programmen für Schüler und Jugendliche, mit familienfreundlichen Konzertzeiten und neuen Konzertserien möchte man sich ein Stammpublikum heranziehen, das gern ins Haus kommt und auf lange Sicht der Musik wieder jene natürliche Aufmerksamkeit widmet, die ihr eigentlich gebührt. Weit weg vom knorrigen Bildungsbürgertumgsgehabe.

Ob das gelingt? Hilfreich wird die Verwandlung der philharmonischen Gemeinschaft in eine gelenkige Stiftungskonstruktion sein. Damit wird die Doppelexistenz als subventionierte Institution und profitorientierte Gesellschaft bürgerlichen Rechts, in deren Vorstand Sir Simon selbst mit sitzt, abgelöst. Und helfen wird bei alldem sicher auch die Deutsche Bank: Sie ist eben zum Hauptsponsor der Philharmoniker avanciert.