Keine Gnade vor Recht

Wie human sind Härtefallregelungen? Der Fall der bosnischen Familie Bilbija und ihres erfolglosen Versuches, sich in Deutschland niederzulassen

von ANGELIKA FRIEDL

Die achtjährige Dajana spricht nur ein bisschen Serbokroatisch, Deutsch dagegen kann sie perfekt. Sie hat Sehnsucht nach ihren Freundinnen in Berlin. Hier in Prijodr, einer kleinen Stadt in Bosnien, kennt sie außer ihrer Familie niemanden.Wenn in den nächsten Tagen die Schule wieder beginnt, wird sie wegen ihrer Sprachdefizite die zweite Klasse wiederholen müssen. Im Hause der Großmutter sind sie alle untergekommen, die Verwandten mussten zusammenrücken. Dajanas Vater, Milomir Bilbija, will das Dachgeschoss renovieren, um etwas Platz zu schaffen. In Prijodr sind zwar die Zerstörungen des Krieges fast beseitigt, aber in der Umgebung gibt es noch immer Minen und zerstörte Gebäude.

Kurz nach der internationalen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas, im April 1992, bricht ein grausamer Krieg zwischen Serben, Muslimen und Kroaten aus. Aus Angst vor Gewalttaten, Deportationen und Internierungen fliehen schon in den ersten Monaten fast 1,4 Millionen Menschen. Der damals 23-jährige Serbe Milomir Bilbija kämpft anfangs auf Seiten der bosnischen Serben, die im Jahr 1992 fast drei Viertel Bosniens erobern konnten. Dann aber wird ihm das Soldatendasein unerträglich. „Ich hatte immer Angst um mein Leben. Ich konnte keine Soldaten mehr sehen. Manchmal haben die einfach aus Spaß auf Menschen geschossen“, sagt er.

Er desertiert und flieht mit seiner Freundin Radana, die er später heiratet, nach Deutschland. Anders als viele bosnische Flüchtlinge hat er Glück. Sein Bruder, der mit einer Deutschen verheiratet ist, lebt in Berlin und hilft, eine Wohnung zu finden. Der Bruder verschafft ihm auch Arbeit. Er stellt ihn als Bauarbeiter in seiner eigenen kleinen Baufirma ein. Dass Bilbija und seine Frau in Deutschland leben können, verdanken sie einem besonderen ausländerrechtlichen Konstrukt – der Duldung. Eine Duldung vermittelt keinen rechtmäßigen Aufenthalt. Aber im Gegensatz zu denjenigen, die illegal in Deutschland leben, machen sich die Ausländer, die eine Duldung erhalten, nicht strafbar. Im Prinzip bedeutet ein solcher Status, dass die Abschiebung nur vorübergehend ausgesetzt ist und die auf diese Weise geduldeten Menschen stets mit gepackten Koffern zur Ausreise bereit sein müssen. Hauptsächlich Flüchtlinge erhalten eine Duldung, meistens für einen Zeitraum von drei oder sechs Monaten. In der Sprache des Rechts heißen sie De-facto-Flüchtlinge, weil sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden können.

In den folgenden Jahren leben sich Milomir und Radana in Berlin ein. Sie bekommen drei Kinder, das erste Kind, Dajana, kommt Ende 1993 zu Welt. Sie wohnen im Bezirk Wedding, in einer 94 Quadratmeter großen Wohnung. Viele der Nachbarn im Haus sind ebenfalls Ausländer. Sie haben sich gut mit den Nachbarn verstanden und sich gegenseitig geholfen, erzählt Bilbija. Anders als die meisten der bosnischen Flüchtlinge, die von Sozialhilfe abhängig sind, arbeitet er während der ganzen Jahre in Berlin, verdient zuletzt sechstausend Mark im Monat. Eine ruhige, unauffällige Existenz, die nur gestört wird durch die halbjährigen Besuche bei der Ausländerbehörde. Morgens um vier Uhr, um die Duldung für das nächste halbe Jahr zu bekommen. Aufgrund einer Arbeitnehmerregelung für bosnische Staatsangehörige erhält Bilbija für zwei Jahre von 1995 bis Anfang 1997 sogar eine Aufenthaltsbefugnis.

Nach dem Friedensschluss von Dayton am 15. Dezember 1995 gehen die deutschen Ausländerbehörden aber wieder von einer Rückkehrpflicht der Flüchtlinge aus. Auf so genannten Orientierungsreisen, die von den Bundesländern bezahlt werden, sollen sich die Menschen über die Situation in Bosnien informieren und ihre Rückkehr vorbereiten. Auch die Bilbijas fahren einige Male in ihre Heimatstadt. Willkommen geheißen fühlen sie sich dort aber nicht. Die Gegend ist verwüstet, die Wirtschaft liegt darnieder, und die Menschen sind verbittert. Einige werfen Bilbija vor, dass er abgehauen sei, während sie gekämpft hätten. Er und seine Frau fühlen sich in Bosnien nicht sicher. Sie wollen lieber in Berlin leben.

Zehntausende Bosnier reisen in der Folgezeit freiwillig aus, andere werden abgeschoben. Auch die Familie Bilbija wird am 19. Februar 1997 zur Ausreise aufgefordert. Aus Angst vor einer Abschiebung tut Bilbija etwas, was er später als „Lebensfehler“ bezeichnet. Von einem Albaner kauft er sich für zweihundert Mark einen schlecht gefälschten italienischen Pass, um sich als EU-Bürger polizeilich anzumelden. Er wird gleich festgenommen und vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin wegen Urkundenfälschung verurteilt. Die Strafe fällt relativ milde aus, das Amtsgericht hält ihm zugute, „dass er geständig war und die Taten bereits im Ermittlungsverfahren vollständig eingeräumt hat“. Die Geldstrafe in Höhe von sechzig Tagessätzen zu zwanzig Mark hat aber noch fatale Folgen.

Die Familie folgt der Ausreiseverpflichtung nicht, erhält aber trotzdem wieder Duldungen. Der Grund: Die Botschaft von Bosnien-Herzegowina, ausdrücklich um „Rückübernahme“ gebeten, beantwortet dieses Ersuchen nicht. Bilbija wendet sich an die Rechtsanwältin Emmi Gleim-Msemo, die seit zwölf Jahren Ausländer rechtlich betreut.

Sie beantragt im März 2001 bei der Ausländerbehörde eine Aufenthaltsbefugnis aufgrund der Härtefallregelung für Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina. Die Kriterien, wie ausreichendes Einkommen, Wohnung, Beschäftigung für den Mittelstand, Schul- und Kindergartenbesuch der Kinder, erfüllt Bilbija alle, mit Ausnahme eines Punktes. Die Regelung erlaubt nämlich nur eine Strafe von höchstens fünfzig Tagessätzen, Bilbija hat zehn Tagessätze zu viel. Ganz konsequent lehnt daher die Ausländerbehörde den Antrag ab, die Anwältin erhebt Widerspruch, über den, die Mühlen mahlen langsam, bis zum heutigen Tag noch nicht entschieden wurde. Auch Duldungen erhält er jetzt nicht mehr. Im Februar 2002 erscheint die Polizei vor der Wohnung, um die Familie zu verhaften.

Die Familie ist jetzt aber untergetaucht, lebt abwechselnd in verschiedenen Wohnungen. Sie wird daraufhin zur jederzeitigen Festnahme ausgeschrieben. Bilbija ist enttäuscht von den bisherigen Bemühungen seiner Anwältin und wendet sich an einen anderen Anwalt, der sich sicher ist, dass die Ausländerbehörde ein Bleiberecht anerkennen müsse. Zusammen mit dem Anwalt gehen Bilbija und seine Frau zur Ausländerbehörde. Dort nimmt man ihn aber gleich fest. Nur aufgrund der Fürsprache des Petitionsausschusses des Abgeordnetenhauses wird er nach einer Woche aus der Haftanstalt in Berlin-Köpenick entlassen.

Rechtsanwältin Gleim-Msemo, an die sich Bilbija erneut gewandt hatte, hatte mittlerweise an den Petitionsausschuss geschrieben und um Hilfe gebeten. Der Ausschuss stimmt – ein relativ ungewöhnlicher Vorgang – mit allen seinen Mitgliedern aus humanitären Gründen für ein Bleiberecht der Familie und empfiehlt der Senatsverwaltung für Inneres, ein solches auszusprechen. Ehrhart Körting, der Senator für Inneres, kann jedoch keine humanitären Gründe erkennen, weil es „an dem hierfür in § 30 Absatz 3 und 4 AuslG (Ausländergesetz) geforderten rechtmäßigen Aufenthalt fehlt“. Der Senator meint offenbar, dass die Härtefallregelung schon selbst ein humanitärer Akt ist, so dass außerhalb dieser Regelung keine Humanität existieren kann.

Anwältin Gleim-Msemo hat aber noch nicht alle Hoffnung verloren. Am 13. Juni schreibt sie an den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und schildert ihm noch einmal genau den Fall. „Ich war so wütend, ich musste irgendetwas tun“, sagte sie. Sie droht sogar mit dem Austritt aus der SPD, sollte es keine positive Entscheidung geben. Von Wowereit kommt aber keine Antwort. In den folgenden Wochen telefoniert sie dafür mehrmals mit dem persönlichen Referenten von Wowereit sowie mit dem Staatssekretär Lutz Diwell von der Senatsverwaltung für Inneres, mit anderen Referenten, die wohlwollende Prüfung zusagen und sich teilweise, so die Anwältin, betroffen über den Fall Bilbija äußern.

Immer wieder wird sie vertröstet, ja ein Rückruf komme heute Nachmittag, komme morgen, in den nächsten Tagen. Milomir Bilbija und seine Frau glauben nicht mehr an eine glückliche Wendung, Radana ist mit den Nerven fertig. Die Koffer sind sowieso schon gepackt, sie wollen ausreisen. Auf den Rat ihrer Anwältin gehen sie zur Ausländerbehörde, um ihre freiwillige Ausreise zu erklären.

Dort legt man ihnen jedoch einen ganz anderen Vordruck zur Unterschrift vor, in dem sie ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis zurücknehmen. Eine übliche Praxis der Behörde, wenn es um Abschiebungen geht; auf einen Schlag können alle Verfahren ad acta gelegt werden. Die erwartungsgemäß negative Antwort des Senats, die wieder auf das rechtswidrige Verhalten von Bilbija und die „eindeutige Rechtslage“ rekurriert, erreicht sie dann schon nicht mehr.

Bilbija kann den deutschen Staat nicht verstehen, sagt er. Er hätte doch immer Steuern gezahlt und Deutschland brauche doch Ausländer, und Kinder auch, meint er, und seine Straftat täte ihm leid. Wovon soll er in Prijodr leben, wor drei Viertel der Bewohner keine Arbeit haben? Er will alles tun, um wieder zurückkehren zu können. Seine Anwältin hat ihm Hoffnung gemacht. Nächstes Jahr verjährt seine Straftat und dann wird sie noch einmal einen Antrag auf Aufenthaltsbefugnis stellen.

ANGELIKA FRIEDL, 42, Juristin, lebt als freie Journalistin in Berlin