Identität im Fluss

Als schwuler Afroamerikaner Teil einer dominanten weißen wie einer minoritären schwarzen Kultur: Thomas Allen Harris’ höchst brillanter Essayfilm „E Minha Cara“

Als suche sie einen Weg durch den Taumel der Geschichte, hangelt sich Thomas Allen Harris’ Super-8-Kamera haltlos und sehnsüchtig über eine afrikanische Straßenszene, um schließlich in Form eines kletternden Jungen ein Bild zu finden, bei dem sich das Verweilen lohnt. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Harris’ Stimme setzt ein und erzählt von seiner „double vision“: einem kleinen Sehfehler, der nur einem Auge erlaubt zu fokussieren, während das andere Auge ständig schielend abschweift. Zugleich gerät ihm diese entregulierte Wahrnehmung zur Metapher seines eigenen mytho-poetischen Verfahrens, die Facetten der afrikanischen Diaspora zu erkunden: Manchmal sei ihm, als sehe er hinter den Objekten auch deren tatsächliche spirituelle Essenz.

Die Analogie zu W. E . B. Dubois’ Konzept des „double consciousness“ liegt nahe. Anfang des letzten Jahrhunderts stellte der berühmte schwarze Soziologe, Bürgerrechtler und spätere Kommunist die These auf, Africans-Americans müssten sich unter Bedingungen des Rassismus und der Diaspora immer zugleich als Teil einer dominanten weißen wie einer minoritären schwarzen Kultur wahrnehmen, um in den Vereinigten Staaten zu überleben. Harris geht es jedoch nicht so sehr um diesen Widerspruch allein, sondern auch um die (Re-)Konstruktionsweisen eines afrikanischen Erbes – und um sein eigenes widersprüchliches Verhältnis zu ihm als schwuler Afroamerikaner.

Sein metaphorischer Travelogue führt ihn dabei auf den Spuren des atlantischen Sklavenhandels zwischen Afrika und der Karibik, zwischen Brasilien, Frankreich und der Bronx hin und her. Immer wieder überschreitet diese Odyssee der Identitätssuche auch zeitliche Grenzen und lässt ihn seine eigene Kindheit in den Siebzigerjahren und den Kulturnationalismus der Black-Power-Dekade reflektieren. Der Soultrain rollte damals mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Emanzipation, und auch Harris’ Familie hatte daran gewaltigen Anteil. Zu altem Familien-Footage erzählt Harris, wie sein gebildeter Großvater damals sofort zur Super-8-Kamera griff, sobald Schwarze im Fernsehen auftauchten oder Bilder aus Afrika zu sehen waren – worauf seine ungleich bodenständigere Großmutter nur antwortete: „I am not from Africa, I am from South Carolina“.

Harris’ politisch radikalere Mutter jedoch realisierte den Traum von der Rückkehr ins Motherland, zog mit ihren Söhnen für eine Weile als Entwicklungshelferin ins sozialistisch-panafrikanistische Tansania und heiratete später, zurück in den Vereinigten Staaten, einen ANC-Aktivisten.

Zu seiner eigenen Identität findet Harris jedoch vor allem in der Auseinandersetzung mit den afro-brasialianischen Kulten in Bahia, in deren katholischer Heiligenverehrung sich die alten afrikanischen „Orishas“ erhalten haben, die Harris’ „doppelter“ Blick dankbar freilegt. Auf dem Karneval von Salvador de Bahia erlebt er zudem eine flüssigere und offenere Form von Sexualität, die ihm erlaubt, sein eigenes Schwulsein neu zu erfahren. Thomas Allen Harris, der in San Diego Film unterrichtet, ist mit „E Minha Cara/This Is My Face“ ein brillanter Essayfilm in der Tradition von Chris Markers „Sans Soleil“, des Black Audio Film Collectives oder der ethnografischen Arbeiten Jean Rouchs gelungen.

Beindruckend ist dabei vor allem seine Handhabung des digital geschnittenen Super-8-Materials. Ohne Synchronton gedreht, entwickelt seine Collage tatsächlich einen ganz eigenartigen visuellen Sog, der immer mehr die Realitätsebenen verwischt und dabei jene Elemente im Fluss zeigt, die Identität erst konstituieren – und doch immer nur Fragment bleiben.

TOBIAS NAGL

„E Minha Cara“. Ab heute, tgl. 19 Uhr, Eiszeit, Zeughofstraße 5, Kreuzberg