Vormarsch im Geist der Taliban

aus Kabul JAN HELLER

Es war, als wäre in der Bundesrepublik der Schwarzweißfernseh-Zeit Kulenkampff oder der Francis-Durbridge-Krimi urplötzlich abgesetzt worden. Am Donnerstagabend fiel in Kabul der übliche indische Film aus dem Programm, ein Straßenfeger, in der Regel eine zuckrige Liebesschnulze mit drallen Schönheiten in gewagt gewickeltem Sari und einem Fäuste schwingenden Träger von Elvis-Koteletten als Helden – und mit viel Musik.

Am nächsten Morgen brodelte die Gerüchteküche. Eine offizielle Erklärung vom zuständigen Kultur- und Informationsministerium blieb zunächst aus. Doch wer am Freitagmorgen zum Gemeinschaftsgebet in die Sarwar-e-Kayenat-Moschee im dicht bevölkerten Kabuler Stadtteil Khairkhana ging, bekam sie geliefert. Dort predigte Fazl Ahmad Manawi, stellvertretender Oberrichter des Landes, ein Mann in den Zwanzigern mit schütterem Bart, „sie“ wollten „unsere“ Jugendlichen und Frauen über Kabel, Satellitenschüssel und sogar über das afghanische Fernsehen mit Hilfe freizügiger Filme „vom rechten Weg abbringen“. Wer sie sind, hatte einige Tage vorher ein Gesinnungsgenosse des Richters, der Kabuler Gouverneur Tadsch Muhammad, verkündet: die dekadenten Westler, die derzeit versuchten, unter dem Deckmantel der Demokratie die Werte des Dschihad, des heiligen Kriegs, zu untergraben. Aber, so Manawi weiter in seiner Predigt, „das werden wir niemandem erlauben“.

Am Sonnabend bestätigte Manawi im Namen des Obersten Gerichtshofes offiziell, was die Gerüchte schon verbreitet hatten. Fernseh- und Radiochef Muhammad Ishaq hatte nicht nur die beliebten indischen Filme aus der Flimmerkiste, sondern auch von Frauen interpretierte Musik als „unislamisch“ aus dem Radio verbannt. Künftig sollen die afghanischen Programmmacher auch außerhalb Kabuls, wo unabhängige Stationen in Betrieb sind, zunächst mit einem aus Geistlichen bestehenden Beratergremium des Obersten Gerichts abstimmen, was über den Sender gehen soll. Der liberale Vizekulturminister Abdul Hamid Mobarez hatte Ishaqs Entscheidung noch als „persönliche“ bezeichnet.

Das Vorgehen steht im krassen Widerspruch zu Äußerungen von Interimsstaatschef Hamid Karsai, der Ende Juni in der Loja Dschirga verkündet hatte: „Radio, Fernsehen und die Presse sind frei.“ Erst kürzlich setzte er eine Kommission ein, die nach Beschwerden über eine Nordallianz-Lastigkeit der elektronischen Medien des Landes die Programme politisch ausgewogener gestalten soll. Zu der Komission gehört auch Ishaq. Er ist erst vor wenigen Wochen ins Amt gekommen, pikanterweise, nachdem der gemäßigte Kulturminister Seyyed Rahin Makhdum seinen Vorgänger Hafiz Mansur wegen dessen fundamentalistischer Programmpolitik abgesetzt hatte. Ishaq wie Manawi und Mansur sind führende Vertreter der jungen Generation der Nordallianz, die die alten Kämpen wie Expräsident Rabbani an den Rand der politischen Szene gedrängt haben und nun Afghanistan nach ihrem fundamentalistischen Bilde formen wollen.

Afghanische Demokraten, die lieber nicht namentlich genannt werden wollen, sehen den „Geist der Taliban“ hinter den Medienverboten. Während der fünfjährigen Talibanherrschaft gab es ein rigoroses Fernseh- und Musikverbot. „Wir haben immer gesagt, dass es ‚Taliban‘ auch in der Nordallianz gibt“, meint einer ihrer Sprecher. Eine Frau, die schon gegen die Taliban aktiv war, befürchtet, dass der nächste Schritt ein Vorgehen gegen die florierenden, auch von den Taliban nie zu unterdrückenden Videotheken sein könnte.

Im nordafghanischen Kundus ist das schon Wirklichkeit. Vor einigen Wochen liess der dortige Gouverneur alle Video- und Kassettenläden schließen und ordnete an, das Lokalfernsehen dürfe nur noch Filme afghanischer Produktion mit dem Thema Dschihad (heiliger Krieg) zeigen. Abdul Rabb Rassul Sayyaf, altgedienter und saudisch finanzierter Kriegsherr, erließ von seiner Hochburg Paghman vor den Toren Kabuls eine Art Fatwa, die auf Hochzeiten künftig „Discomusik“ untersagt. Man solle sich stattdessen auf traditionelle Instrumente, kleine Trommeln und Flöten, beschränken. Wer als Afghane heute Paghman besucht und sich seinen Bart abrasiert hat, muss damit rechnen, von Sayyafs Bütteln zusammengeschlagen zu werden. Sayyaf verfügt auch in der Hauptstadt selbst über erhebliches Machtpotenzial: Sein „General“ Scher Alam kommandiert das hiesige Armeekorps. Der schiitische Ajatollah und Parteiführer Mohseni bildete parteieigene Komitees zur Abwehr westlicher Werte und trat auch schon im staatlichen Fernsehen mit einem Belehrungsprogramm auf.

Im westafghanischen Herat zitierte in der vorigen Woche der Warlord Ismail Khan alle Afghaninnen in sein Büro, die bei der UN und ausländischen Nichtregierungsorganisationen arbeiten. Er legte ihnen väterlich ans Herz, die islamischen Werte zu achten. Das heiße: die Burka zu tragen, in nach Geschlechtern getrennten Büros zu arbeiten, ausländischen Männern nicht die Hand zu geben. Sollten sich die Frauen von den Ausländern belästigt fühlen, könnten sie sich jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden.

Schließlich rief sogar die Karsai-Übergangsadministration Anfang August eine Neuauflage der berüchtigten Taliban-Religionspolizei „Ministerium zur Förderung der Tugend und zur Bekämpfung des Lasters“ ins Leben. Zwar versuchte Karsais Sprecher Fazel Akbar westliche Besorgnis zu dämpfen, in dem er erklärte, dass es sich dabei lediglich um eine Art Institution zur islamischen Bildung unter anderem Namen handele. Aber deren designierter Chef Muhammad Wazir Razi Kabuli zeigte dem örtlichen AP-Korrespondeten seine Visitenkarte mit der von den Taliban übernommenen Bezeichnung und räsonierte bereits über den öffentlichen Gebrauch von Lippenstift.

Unterstützung für die Ablehnung westlicher Werte kommt aus dem Untergrund. In Kabul kursieren derzeit dari-sprachige und mit Koransuren gespickte Flugblätter einer Gruppe namens „Opferbereite Mudschaheddin“, die „den sofortigen und bedingungslosen Abzug der ungläubigen Streitkräfte“ aus Afghanistan verlangen. Die Gruppe, die sich als „eine Gemeinschaft aus gläubigen und gottesfürchtigen Mudschaheddin“ bezeichnet, kündigt an, alle „unreinen Hände, die sich aus dem Osten oder Westen, aus dem Süden oder Norden nach unserem Land ausstrecken, abschlagen“, den „islamischen Charakter“ Afghanistans verteidigen und eine „islamische Regierung“ errichten zu wollen – die demnach also bisher nicht existiere. Der geeignete Weg dahin sei „allein der Dschihad auf dem Weg Gottes“. Gott werde dafür sorgen, dass „den Amerikanern und den Engländern“ dasselbe Schicksal zuteil werde „wie den Russen – die Niederlage“. Allen Afghanen, die mit ihnen verbündet seien und sich damit „vom Islam und vom Afghanentum abgewandt“ hätten, also „ungläubige und vaterlandsverkaufende Kommunisten“ seien, wird ebenso der Dschihad erklärt.

Vertreter der afghanischen Demokraten vermuten, dass fundamentalistische Fraktionen in der Nordallianz hinter den Flugblättern stecken. Dafür spricht, dass sie in Dari und nicht in Paschtu geschrieben sind. Auch die Art, in der sie sich auf den Begriff Dschihad beziehen, legt nahe, dass es sich bei den Verfassern nicht etwa um Taliban im Untergrund handelt. Der Geist der Taliban spricht aber aus ihnen.