Vom Berlin-Bazillus angesteckt

Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit der Initiative „Courage zeigen – Fremdsein überwinden“ wird ausgezeichnet

BERLIN taz ■ Die Beobachtung war einfach: In den Museen und Gedenkstätten hörten sich seine Schüler betroffen die Geschichten über Berlin an. Aber kaum war die Studienfahrt vorbei und sie hatten der damals noch geteilten Stadt den Rücken gekehrt, war es ihnen „scheißegal“, wie Helmut Spiering sagt. Das ging dem 55-jährigen Gymnasiallehrer gegen den Strich, er wollte, dass „mehr haften bleibt“. Deshalb startete er 1983 zusammen mit seinen Schülern die Initiative „Courage zeigen – Fremdsein überwinden“, die heute von Innenminister Otto Schily einen Sonderpreis erhält für ihr „herausragendes Engagement für Völkerverständigung und Toleranz, gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“.

„Ich wollte gegen die Gleichgültigkeit arbeiten“, sagt der Mathematik- und Erdkundelehrer aus dem niedersächsischen Bad Iburg und fing an, das vorgegebene Programm der Studienfahrten zu verändern. Statt langweiliger Infoveranstaltungen Treffen mit Zeitzeugen, Diskussionen im Grips-Theater oder mit den Berliner Philharmonikern. Aber vor allem: Eigenengagement seiner Schüler, die sich in Fotoausstellungen, Zeichnungen und Seminaren mit Berlin beschäftigen und das neue Angebot begeistert aufnehmen.

Aber erst mit dem Fall der Mauer 1989 und den fremdenfeindlichen Ausschreitungen der folgenden Jahre findet sich sowohl für Spiering als auch für seine Schüler das prägende Thema ihrer Arbeit: Mehr als 20-mal besuchen sie russische Kasernen rund um Berlin, veranstalten Seminare mit russischen Jugendlichen und Soldaten. „Aufbruch und Umbruch in der DDR“, „Moskau – Berlin, gestern, heute, morgen“ heißen die. Mit dabei sind unter anderem der russische Dissident und Schriftsteller Lew Kopelew sowie die DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe.

Aus einem dieser Seminare entsteht 1993 die Idee zu einem Film. Spierings Schüler schreiben das Drehbuch und spielen selbst. „Fremdsein in Deutschland“ heißt das Ergebnis. Zu sehen sind die goldenen 20er-Jahre in Berlin, Trümmerfrauen, die Maueröffnung und die Aufmärsche der neuen Rechten in Deutschland. Gustav Stresemann, Rudolf Heltzel, Gad Beck, Rainer Hildebrandt oder Günter Schabowski – sie alle beantworten die Fragen der Schüler nach der Vergangenheit, erzählen, was es heißt, im eigenen Land fremd zu sein. Der Film erhält Preise, eine Einladung zur Berlinale und wird in acht Sprachen übersetzt.

Mit ihm und bisher zwei weiteren Filmen reisen Spiering und seine jungen Mitstreiter seitdem durch Deutschland und Europa, präsentieren ihren Film und laden zur Diskussion ein. Sie waren in Moskau, Jerusalem, Rom und Madrid, haben Gerhard Schröder getroffen, Wolfgang Thierse und den Papst. Und immer geht es um die Frage nach Vorurteilen, Toleranz und Völkerverständigung – ein Thema, das sich „eben nicht nur auf Deutschland beschränkt“, so Spiering. Mit über 50.000 Menschen haben sie inzwischen gesprochen, gesehen haben den Film wohl mehrere Millionen Menschen.

Es ist die Begeisterung seiner Schüler, die den Lehrer in seinem nebenberuflichen Engagement bestätigt oder die hohe Telefonrechnung verschmerzen lässt. Und der Wille, ihnen eine Art „kulturelles Grundverständnis“ zu vermitteln, in seinen Augen „wichtiger als jede Zwei in Mathe“. SUSANNE AMANN