Schaukeln auf der „Grethe Witting“

Beim dreitägigen Segeltörn zeigen sich Meer und mecklenburgische Küste von ihrer besten Seite. Auf dem 80 Jahre alten Lowestoft-Logger regiert ein Seebär. Abends werden Rasmus und Neptun mit einem Schluck Sherry friedlich gestimmt

von HANNE BAHRA

Was ziehe ich an? So ein erster Segeltörn auf der Ostsee ist schließlich kein Strandspaziergang. Andererseits ist die Baltische See das kleinste der Weltmeere, ein Nebenmeer, fast eine Pfütze ohne nennenswerte Gezeiten, mit spärlicher Flora und Fauna. „Wir mussten uns bei Windstärke 9 am Mast anbinden“, raubt mir eine Freundin die Ruh. Ein Fachjournal tröstet: „Sommerstürme sind selten auf der Ostsee.“ Ja, aber kabbelige See gibt es schon ab Windstärke 3. Das reicht, um seekrank zu werden. Auch wenn wir „ nur“ längs der Küste schippern, immer die mecklenburgischen, dann die vorpommerschen Strände vor Augen.

Unser Schiff wartet im Wismarer Hafen. Gleich neben den schnauzbärtigen hölzernen „Schwedenköpfen“. Mannsbilder wie sie schmückten einst das Heck der schwedischen Schiffe. Relikt jener 255 Jahre, in denen Wismar Ausland für uns war. Sehnsucht nach Ferne liegt in der Seeluft, Geschrei der Möwen und Geruch nach Geräuchertem vom Fischmarkt. Im Hintergrund mittelalterliches Hafenpanorama, „wie hingemalt von den Fingern eines Träumenden am Horizont“. Fast wäre eingestürzt, was Ricarda Huch bei Annäherung an die Stadt einst beschrieb: Inzwischen ist das Dach von St. Georgen, Deutschlands wohl bedeutendster Kirchenruine und Flaggschiff der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, neu gedeckt. In den restaurierten Giebeln der Bürgerhäuser wetterleuchtet wieder die Hanse.

Beim Anblick der achtzig Jahre alten „Grethe Witting“, eines der letzten drei englischen Lowestoft-Logger, wird aus mir, einer bekennenden Landratte, flugs eine begeisterte Wasser- und Windsbraut. Maritimromantik pur. Achtern, am Steuerrad des 30 Meter langen hölzernen Schiffes steht ein Seebär mit wettergegerbtem, weißbärtigem Gesicht und fremdartigem Akzent. Käpt’n Wim Ruiter ist Holländer, war mit dem ehemaligen Fischerboot schon in Stockholm und St. Petersburg. Jahrelang schipperte er über die Nordsee. „Doch da wurde den Leuten oft schon am ersten Tag vom Seegang übel. Schlecht fürs Geschäft.“ Seitdem er über die Ostsee segelt, ist er zufrieden. Seine Gäste kommen vor allem aus dem „Hinterland“, er meint Berlin. Auch sein „Erster Offizier“, Sabine, 24 Jahre alt, kam zunächst als Gast auf das Schiff. Seit einigen Jahren trägt die Pädagogikstudentin an Wochenenden und in Semesterferien das Seemannshemd, gibt auch uns die Kommandos. Die vierköpfige Crew, da sind noch der Bootsmann Christian und Maschinist Uwe, ist auf die Mitarbeit der Gäste angewiesen. Für eine volle Betakelung sind immerhin 437 Quadratmeter Segel zu bewegen. Dass viele von uns ihre Füße zum ersten Mal auf hölzerne Schiffsplanken setzen, bringt die Mannschaft nicht aus der Ruhe. Ständig müssen irgendwelche Taue aufgeschossen werden, im Uhrzeigersinn. Oder genau andersherum? Irgendwie schafft es die Crew, dass alle genau im richtigen Moment am richtigen Strang ziehen. Auf Höhe der Insel Poel sind alle Segel gesetzt.

Zeit für uns, den ersten Schock über die vier winzigen Kabinen mit den handtuchbreiten Doppelstockbetten und die komplizierte Bedienung der beiden Bordtoiletten zu verarbeiten. Doch wir gewöhnen uns auch unerwartet schnell an die Katzenwäsche im Handwaschbecken.

Erst nach getaner Arbeit genießen wir Sonne und Seewind, Barometer und Stimmung stehen auf heiter. Um elf Uhr werden Rasmus und Neptun mit einem Schluck Sherry über Bord friedlich gestimmt. Sanft schaukeln wir auf breiten Wellenhügeln wie Babys in der Wiege. Dünung bei Windstärke 2.

Damit wir wenigstens einmal nur das Knatschen der Gaffeln und den Wind in den Wanten hören, stellt Wim den Motor ab. Wir dösen und dümpeln. Steuerbord spült die See glitzernde Brandungsstreifen auf das helle Sandband der Küste. Vom Schiff aus erblickt man Mecklenburg-Vorpommerns schönstes Meergesicht. Meile um Meile naturbelassene Strände. Kein Hochhaus, nur die Kirchturmspitze von Rerik. Die bleiche Schönheit Heiligendamm, Deutschlands ältestes Seebad, lagert lasziv am Strand. Erst vor Warnemünde kragt das hohe Hotel Neptun scharfkantig in den blauen Himmel. Bis zum grünweißen Leuchtturm an der Hafeneinfahrt dauert es länger als vermutet. Gigantische Fähren durchfurchen das Wasser. Zahllose weiße Segel tüpfeln das blaue Meer. Warnemünde mit dem fast geradlinigen Küstenverlauf, idealen Strömungsverhältnissen und sicheren Wassertiefen ist eines der beliebtesten Segelreviere der Ostsee.

Bevor Stralsund, die letzte Station der Tour erreicht ist, steige ich in die Wanten: Einmal das Schiff aus Möwenperspektive sehen. Mit einem Seil gesichert, klebe ich in den Tauen. Schlackernde Knie – trotz Flaute. Doch dann entdecke ich aus dem wackligen Ausguck das ideale Panorama einer mittelalterlichen Seehandelsstadt. Stralsund. Die Türme von St. Nikolai, die filigranen Blenden des Rathauses gaukeln ungebrochen hanseatisches Selbstwusstsein vor; die Anordnung der Backsteine spiegelt hanseatischen Kunstverstand, die Bestimmung der Türme als Seezeichen den allgegenwärtigen praktischen Sinn. Idealtypisch als Hansestadt wie auch Wismar, tragen nun beide Städte den Status eines Weltkulturerbes. Als Stralsund schon 1962 zum Flächendenkmal erklärt wurde, scherte sich kaum jemand darum. Von 450 Bauten auf der Denkmalliste befand man 1988 nur noch 291 für schützenswert. Heute gibt es hier 800 Einzeldenkmale. Doch dass Stralsund neben Lübeck im 14. Jahrhundert die bedeutendste Stadt im Ostseeraum war, dokumentiert nichts überzeugender als die Stadtsilhouette seewärts.

Der Himmel hat sich verdunkelt, schüttet violettes Gewitterlicht auf die perfekte Vedute. Als Rasmus sich schließlich zu Windstärke 9 aufrafft, haben wir das Schiff längst verlassen.

Infos: Segeltouren mit der „Grethe Witting“ über Tel./Fax (0 23 75) 93 79 87www.grethe-witting.com