Die Anatomie des Erstwählers

Rund 3,3 Millionen Wähler dürfen am 22. September erstmals an die Urnen. Die taz seziert die unberechenbare Macht

Auf den SCHULTERN der Jugendlichen lasten gesellschaftliche Veränderungen stärker als auf denen anderer Bevölkerungsgruppen – vermutet die Shell-Studie. „Vielleicht ist das der Grund, weshalb Jugendliche Politik ganzheitlich verstehen.“ Politische Seismographen sind sie deshalb, die jungen Wähler: Sie zeigen, wo künftige Chancen und Probleme liegen.

Die Erstwähler-HAND macht das Kreuzchen seltener bei den großen, aber häufiger bei kleinen oder radikalen Parteien. 1998 spürten das vor allem CDU und SPD: Rund sechs Prozentpunkte weniger als im Durchschnitt bekamen sie von den Wählern zwischen 18 und 24. Es profitierten Grüne (plus drei Prozentpunkte), PDS (plus ein Prozentpunkt) und DVU (plus fünf).

Die ELLENBOGEN raus und immer auf den eigenen Vorteil bedacht. „Egotaktiker“, sagt die Shell-Jugendstudie. Dabei übersieht der erwachsene Zeigefinger: Immer noch sind 76 Prozent wenigstens gelegentlich gesellschaftlich aktiv. Etwa im jugendlichen Umfeld und für konkret Bedürftige. Übergreifende Ziele kommen später. Nur um „politische Veränderungen“ kümmert sich keiner.

Auch Erstwähler entscheiden aus dem BAUCH. Sie verschwinden schon seit den 80er-Jahren aus Vereinen und Verbänden. Die Parteien sind ihnen schnuppe. Im Vordergrund stehen punktuelle Aktionen wie Demos, politische Diskussionen oder Unterschriftensammlungen. Attraktiv ist, was nicht in dauerhafte Mitgliedschaft mündet

Rund 3,3 Millionen frische KÖPFE reihen sich am 22. September ins große Heer der Wähler ein. All jene, die zwischen dem 28. September 1980 und dem 22. September 1984 geboren sind, dürfen zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Ob die Erstwäh-ler den Ausgang der Wahl entscheiden, ist angesichts von insgesamt 61,2 Millionen Wahlberechtigten allerdings fraglich.

Sie liegt ihnen nicht mehr am HERZEN, die Politik – jammert es aus allen Ecken. Dabei erkennt die Shell-Studie: Generelles Desinteresse an Politik kann man Jugendlichen nicht unterstellen. Die Mehrheit schwankt zwischen skeptischer Distanz und punktueller Aktivierbarkeit – etwa bei Attac. Rund ein Zehntel der Jugendlichen sind engagierte politische Akteure. Ihnen steht ein Viertel passiver Zuschauer gegenüber.

Wie viele haben ihren FUSS ins Wahllokal gesetzt, zur ersten Wahl beim letzten Mal? Man weiß es nicht. Es gibt dazu keine Erhebung. Aus Kostengründen. Die letzten Zahlen sind zwölf Jahre alt. Knapp 65 Prozent aller Erstwähler gaben ihre Stimme ab. Bei der nächsten Wahl wollen sich 35 Prozent „auf jeden Fall“ und 37 Prozent „wahrscheinlich“ an die Wahlurne wagen. Tendenziell ist die Beteiligung der Erstwähler immer geringer als beim großen Rest.