Warten auf das große Wasser

Die Flutwelle kommt schneller und höher als erwartet die Elbe hinunter. Im Wendland bereiten sich die Menschen auf das Schlimmste vor. Sie füllen Sandsäcke, schleppen ihren Besitz unters Dach und verjagen skrupellose Geschäftemacher

von SANDRA WILSDORF

Sebastian Schnoy hat am Wochenende seinen Urlaub abgebrochen und ist zu seinen Eltern nach Schnackenburg (Kreis Lüchow-Dannenberg) geeilt: Sandsäcke Schleppen und die wichtigsten Dinge vom Erdgeschoss in den ersten Stock tragen. Denn dass die Welle kommt, konnten die Schnackenburger gestern schon sehen: „Das Wasser steht jetzt schon so hoch wie sonst nur manchmal im Winter“, sagt der Hamburger. Und in Wittenberge, der größeren Stadt am anderen Elbufer, wurden bereits Stadtteile evakuiert.

In Schnackenburg war die Stimmung gestern angespannt. „Die Menschen reden mehr miteinander“, sagt Schnoy. Der kleine Ort ein paar Kilometer elbaufwärts von Gorleben liegt direkt am Deich, „und ein Stückchen in Richtung Gatow ist der Deich marode“. Die Feuerwehr bemüht sich, ihn mit Sandsäcken und Plastikplanen zu verstärken. Aber die Schnackenburger fürchten nicht nur den Deichbruch, sondern auch, dass die Elbe obendrüber schwappt. „Die Gemeinde hat einen Haufen Sand abgeladen, da kann sich jeder etwas nehmen.“

Ein Geschäftemacher war gestern auch schon da: Der hatte Säcke dabei, für die er zwei Euro pro Stück haben wollte. Die Schnackenburger haben ihn empört davongejagt. So wie die Polizei auch die vielen Hochwassertouristen vertreibt, denn diese behindern zunehmend die Arbeit. Die einzige Straße nach Schnackenburg hat jetzt ein „Anlieger frei“-Schild. „Wir hoffen, dass die Versorgung nicht unterbrochen wird“, sagt Schnoy.

Die zweite Welle

In ganz Norddeutschland steigt das Elbe-Hochwasser schneller und höher als erwartet. Schon morgen Nachmittag müsse mit der zweiten gefährlicheren Welle gerechnet werden, sagte Bernhard Schürmann vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft und Küstenschutz (NLWK) gestern.

Die Landkreise Lüneburg, Lüchow-Dannenberg, Ludwigslust und Harburg sowie das Herzogtum Lauenburg haben Katas-trophenalarm ausgelöst und ihre Krisenstäbe zusammengerufen. Im Amt Neuhaus wurden bereits Tausende von Kühen, Schweinen und Hühnern abtransportiert. An der höchstgelegenen Stelle wurde ein Zeltdorf für 1500 Leute aufgebaut. Hier sollen Menschen aus den kritischen Regionen bei Wehningen, Bitter und Neu Wendischthun Platz finden. 6000 Menschen droht die Evakuierung.

Der schleswig-holsteinische Kreis Herzogtum Lauenburg versucht sich mit rund einer Million Sandsäcken gegen die erwartete Flutwelle der Elbe zu schützen. Ab morgen soll die Situation bedrohlich werden, der Höhepunkt des Hochwassers wird am Wochenende mit einem Pegelstand von 9,80 Metern erwartet. Bereits bei neun Metern wäre die historische Altstadt von Lauenburg bis zu einem Meter überschwemmt. Bricht der Deich bei Lauenburg, muss damit gerechnet werden, dass sich die Wassermassen bis zu neun Kilometer ins Hinterland ergießen.

Die Sicherungsarbeiten konzentrieren sich deshalb seit dem Wochenende auf den Deich rund einen Kilometer östlich von Lauenburg, der als kritischer Punkt gilt. Dort verbauen die Helfer rund 650.000 Sandsäcke, um den Deich zu verstärken und um einen Meter auf 10,80 Meter zu erhöhen. Wenn der Deich hier bricht, wird damit gerechnet, dass die nördlich von Lauenburg gelegenen Dörfer Buchholz, Lanze, Basedow, Dalldorf und Witzeeze vom Wasser eingeschlossen werden.

Neue Prioritäten

Die Kieler Landwirtschaftsministerin Ingrid Frenzen hat für heute Kabinettsberatungen zum Neubau des gefährdeten Elbdeiches angekündigt. Seit Jahren hatten sich Sanierung oder Neubau verzögert, weil das Land keinen Bedarf gesehen hatte. „Die Prioritäten werden nach diesen Ereignissen sicher neu gesetzt“, erklärte die Ministerin gestern.

Während das Deutsche Rote Kreuz in Lauenburg Ausweichquartiere für bis zu 900 Menschen vorbereitet, die möglicherweise ihre Häuser verlassen müssen, laufen im Gewerbegebiet die Sicherungsmaßnahmen auf Hochtouren. Alle Unternehmen waren bereits am Wochenende aufgefordert worden, Chemikalien und andere Gefahrstoffe aus dem vom Hochwasser bedrohten Gebiet in Sicherheit zu bringen.

Wenige Kilometer weiter enden vorläufig die offiziellen Sorgen. Die Staustufe Geesthacht, wo gestern Nachmittag noch Badende unbeschwert in der Sonne lagen, soll den Flutwellen die Spitze nehmen. Für die Vier- und Marschlande sagt die Hamburger Innenbehörde einen Pegel drei Meter unter der Deichkrone voraus, für den Hamburger Hafen nur 60 Zentimeter über mittlerem Hochwasser. Dennoch hat die Behörde eine Hotline zum Hochwasser eingerichtet: 040/ 330 990 (heute ab 10 Uhr, ab morgen von 8 bis 20 Uhr).