Fragmentarische Erfahrungen

Das 3001-Kino zeigt die Symphonie einer chinesischen Großstadt: „I Love Beijing“ von Regisseurin Ning Ying folgt dem schnellen Leben des jungen Taxifahrers Dezi – und präsentiert eine Hauptstadt im Umbruch

Unübersehbar die Inspiration der chinesischen Regisseurin Ning Ying durch die italienischen Neorealisten: Wo jüngst Wang Xiaoshuai für sein Beijing Bicycle bei de Sicas Fahrraddiebe Anleihen suchte, sprach schon aus früheren Filmen der einstigen Regieassistentin Bernardo Bertoluccis wie For Pleasure (1992) und On the Beat (1995) die Lust an Wirklichkeit. Doch gleich zu Beginn ihres I Love Beijing machen auch „Komponisten“ von Großstadtsymphonien wie Walther Ruttmann oder Dziga Vertov ihren Einfluss geltend: Zu experimentellem Jazz sehen wir auf einer Pekinger Kreuzung Busse, PKWs, Fahrradfahrer und Fußgänger zu organischem Verkehr sich fügen, einzig harte Schnitte im Rhythmus der Musik sezieren das scheinbar harmonische Ganze.

Als Vehikel ihrer Liebeserklärung an die chinesische Hauptstadt dient Ning Ying – übrigens eine der wenigen Frauen, die sich im Filmgeschehen Chinas durchsetzen konnten – ein Taxi. Hier sehen wir, was noch vor kurzem in China undenkbar schien. Zurückgekehrt aus Italien, berichtete Ning von Autos, die mehr als 100 Stundenkilometer schnell fahren, ihre Zuhörer waren schockiert. Taxifahrer Dezi (Yu Lei) lässt sich nun schon mal von ein paar Gangstern zum Rasen in der Stadt überreden – und genießt sichtlich den Thrill. Das schnelle Geld, der gute Rausch, die kurze Affäre, das sind die Dinge, die für ihn zählen. Ob Intellektuelle immer noch so wenig Geld verdienen, fragt er eine Bibliothekarin, die er erst durch einen Preisnachlass zur Fahrt überreden konnte. Ihr Dünkel bröckelt bald: Auch sie hätte gern mehr Geld: „für Markenklamotten“.

Weniger mit den Augen Dezis als durch die Scheiben seines Taxis blicken wir auf ein Peking im Umbruch. Allenthalben ragen gespenstisch beleuchtete Hochhausbaustellen der künftigen Olympiastadt in den Himmel. Der Bauboom im Jahr des Drehs, 1999, war jedoch dem 50. Jubiläum der Partei geschuldet, dem Gefühl vieler Chinesen nach, berichtet die Regisseurin, sei es das Letzte gewesen.

In Fragmenten präsentiert I Love Beijing das Leben Dezis über einen Zeitraum von etwa einem Jahr, den Gang zur Scheidungsbeamtin, seine Liebschaften, kurze Begegnungen mit Fahrgästen und Clubabende. Es sind Bilder noch unverbundener Erfahrungen, wie sie die zahlreichen Privatisierungen in chinesischen Großstädten zur Jahrhundertwende hervorbringen.

Wenn die Taxifahrer des ehemals staatlichen Unternehmens in völlig wirren Begriffen einer vom Kapitalismus schon beeinflussten Sprache ihren derzeitigen Status diskutieren, gewinnt Ning Ying dem auch Humorvolles ab. Doch bei aller Poesie und Musikalität ihres Films verschweigt sie auch die bitteren Seiten nicht: einen erbarmungslosen Verteilungskampf, der Dezi nicht davor zurückschrecken lässt, einen Fahrgast, der nicht bezahlen kann, mit seinem kleinen Sohn zum Ausziehen zu zwingen, um dann die Beutestücke, Klamotten und eine Aktentasche, an der nächsten Kreuzung achtlos wegzuwerfen.

C. Müller-Lobeck

täglich, 20.30 Uhr, 3001