Alter Präsident, ganz neue Töne

Absprachegemäß wählen Boliviens Abgeordnete den Ex-Präsidenten Sánchez de Losada zum neuen Regierungschef. Doch die Debatte zeigt eine veränderte politische Landschaft: Plötzlich melden sich Indígenas im Parlament lautstark zu Wort

von GERHARD DILGER

Der Kontrast zwischen den Kandidaten hätte stärker kaum sein können: Auf der einen Seite Evo Morales (42), indianischer Kokabauer, Gewerkschaftsführer, wortgewaltiger Globalisierungskritiker und Albtraum Washingtons. Auf der anderen: Gonzalo „Goni“ Sánchez de Lozada (72), grauhaariger Gentleman, millionenschwerer Minenunternehmer, als Präsident von 1993 bis 1997 dezidierter Vertreter eines neoliberalen Kurses, wegen seines nordamerikanischen Akzents auch „Gringo“ genannt.

Fünf Wochen nach den Wahlen stellten sich die beiden Sieger am Wochenende zur Stichwahl im bolivianischen Kongress. Bemerkenswert war weniger das Ergebnis, denn Gonis „Nationalrevolutionäre Bewegung“ (MNR) hatte sich bereits im Vorfeld auf eine Allianz mit der „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR) von Jaime Paz Zamora verständigt. Entgegen ihren Namen sind dies die längst etablierten und systemkonformen Parteien. Die MNR gilt als rechtsliberal, die MIR als sozialdemokratisch.

Aus dem Rahmen des Gewohnten fiel hingegen die Wahlsitzung, denn zum ersten Mal sind im Parlament dutzende von Kleinbauern und Indígenas vertreten, darunter viele Frauen. Mit ihren bunten Trachten signalisierten sie, dass der Kongress kein exklusives Forum der kleinen weißen Elite mehr ist, die Bolivien seit 177 Jahren regiert. Alle 157 Abgeordneten kamen zu Wort, und vor allem die neue Opposition aus „linksgerichteten Ureinwohnern“ (AFP) nahm kein Blatt vor den Mund.

Senator Filemón Escobar warf dem Establishment „Völker- und Wirtschaftsmord“ vor, der Bevölkerung seien „das Land, das Wasser und die Koka“ weggenommen worden. „Wir sind jene, die unter den weiten Röcken geboren sind, wir haben für manche der hier anwesenden Herren gearbeitet – in ihren Häusern, in ihren Bergwerken, auch in dem von Gonzalo Sánchez de Lozada“, sagte ein Indígena-Sprecher.

Immer wieder wurde Sánchez de Lozada als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt, und die zwei Söhne von Jaime Paz Zamora wurden aufgefordert, das „unvollendete Werk ihres Vaters“ fortzusetzen und daher für Evo Morales zu stimmen. Selbst aus der Regierungskoalition fielen kritische Worte: So versicherte die MIR-Parlamentarierin Elsa Guevara, der Pakt mit der MNR werde nicht dazu dienen, den Verkauf der Staatsbetriebe fortzusetzen, sondern das, was der Präsident „eigenhändig verkauft“ habe, zurückzugewinnen.

Nach einem 25-stündigen Debattenmarathon kam es am Sonntagnachmittag zur Abstimmung: 84 Stimmen entfielen auf Goni, 43 auf Morales, 26 auf den Rechtspopulisten Manfred Reyes. Kurz darauf verkündete ein strahlender Sánchez de Lozada fünf Maßnahmen, mit denen er in 90 Tagen einen „Vertrauensschock“ einleiten will: den Bau von Landstraßen, Staudämmen, Bewässerungskanälen und 100.000 Sozialwohnungen, die Versorgung von 250.000 Familien mit Erdgas und den Ausbau des Stromnetzes für 200.000 Familien. Heute wird der alte und neue Präsident vereidigt.

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