Wir Weltoffenen

Von wegen tief im Sommerloch und hoch am Zwirbel! Bei den diesjährigen young.euro.classics im Konzerthaus am Gendarmenmarkt geht es um die sprachüberschreitende, weltumspannende Kraft der abendländischen Kunstmusik

Ibrahim Yacici denkt jetzt sicher, die Deutschen sind unglaublich nett zu den Türken. Er kommt mit dem Symphonieorchester des Staatskonservatoriums aus Ankara nach Berlin geflogen, und auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt sieht das Orchester schon die Flaggen von young.euro.classic gehisst. Und Yacici, eben 32 Jahre alt, dirigiert das Eröffnungskonzert des diesjährigen Festivals, und das Berliner Publikum im Konzerthaus am Gendarmenmarkt dreht geradezu durch vor Begeisterung!

Young.euro.classic gibt es in diesem Jahr zum dritten Mal. Heuer kommen rund 2.000 junge MusikerInnen aus 13 Nationen. In 14 symphonischen Konzerten und zwei Special Nights werden vor allem Werke der so genannten klassischen Moderne aufgeführt, dazu kommen Uraufführungen und deutsche Erstaufführungen.

Gemein ist da, wer denkt, das Festival mit Jugendorchestern europäischer Länder oder Ländern auf dem Weg nach Europa stopfe bloß das Sommerloch in Berlin. So ist es nicht. Man könnte sagen, young.euro.classic zeige einmal mehr die sprachüberschreitende, weltumspannende Kraft der abendländischen Kunstmusik. Außerdem könnten die vielen nach Berlin angereisten Jugendlichen später zu Hause erzählen, dass man in Deutschland sehr weltoffen sei. Auf diesen Effekt zählt Willi Steul, der Vorsitzende des organisierenden Vereins. Steul steht der Leiterin des Festivals, Gabriele Minz, zur Seite, und er sitzt zu ihrer Linken, als man Tage vor dem Eröffnungskonzert ganz nobel zur Pressekonferenz in den Wintergarten des Adlon bittet. Man spürt die Liquidität der vielen Förderer und Sponsoren an einem solchen Morgen; die Europäische Union gehört dazu, BMW, die Deutsche Klassenlotterie, der Hauptstadtkulturfonds.

Die Pressekonferenz ist perfekt organisiert. Auf dem Podium sitzt eine echte Komponistin, die neue PR-Agentur hat funky Werbematerial entworfen, und hinterher wird Kaffee in silbernen Kannen serviert. Man hat große ideelle Ziele. Wenn die Türken zum Beispiel, so Steul, das Eröffnungskonzert bestreiten und die Griechen am heutigen Dienstagabend spielen und die jungen Leute dann zu Hause sagen werden: „Die Griechen respektive die Türken waren auch da, und es war ganz toll“, sei viel erreicht. Das Festival habe auch eine wichtige politische Intention. In diesen Rahmen füge es sich, das Eröffnungskonzert in die Hand des türkischen Orchesters zu geben. Was man in Berlin kenne, sei die Türkei, aus der die Leute emigrieren, es gebe aber, so Steul, auch eine andere Türkei, „mit außerordentlich weltoffenen und gebildeten Bürgern“.

Am Eröffnungsabend spricht er noch einmal zum Publikum im fast ausverkauften Konzerthaus. Es ist ein Abend der Jugend für das Alter. Im Parkett sitzen die Geldgeber, auf den Rängen Touristen und gewöhnliches Publikum, und von ganz oben winken die Bataillone der Orchestermusiker, die in den kommenden Tagen spielen werden. Steul sendet professionell aufgemachte Begrüßungsworte und bietet auch noch etwas international angehauchte Prätention, indem er französisch spricht und italienisch, mit großer Geläufigkeit natürlich. Danach übergibt er an den Paten des Abends, André Schmitz, Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei, der sagt: „Der Staat, die Stadt, Gemeinwesen, das sind wir alle.“ Und dass man im Kulturbereich auf private Initiativen angewiesen sei.

Dann spielt die andere Türkei. Die Orchestermitglieder sehen gerade so aus wie andere junge Leute auf dem steinigen Weg ins Musikerdasein. Ihr Dirigent Yacici hat eine gewaltige Mähne, und das wäre auch schon das Einzige, was man rechtschaffen an ihm kritisieren könnte. Yacici verbringt nämlich viel Zeit damit, seine Haare zu schütteln und ein wenig lose auf dem Dirigentenpodest umherzuspringen. Die Spannung zu halten, Disziplin etwa in Schostakowitschs erstes Klavierkonzert zu pusten, das gelingt noch nicht so richtig gut.

Es macht aber nichts. Denn Ozgur Aydin, der Pianist des Abends, kann sehr, sehr gut Klavier spielen. Die verzwirbelten Passagen wirft er lässig in den Flügel hinein, ohne sich lange um die eigenartige Gratwanderung zwischen Launigkeit und Strenge zu scheren, die Schostakowitsch komponiert hat. Den zweiten Satz, das „Lento“, gibt der 30-jährige Aydin so, dass man nur noch tiefe, tiefe Wasserteiche sieht, still und beruhigend.

Auch an diesem Eröffnungsabend gibt es Neue Musik, die man allerdings lieber vorsichtig Neuere Musik nennen sollte. Zu hören sind Mahir Cetiz’ „Introduktion und Tango“ und Ertug Korkmaz’ „Shades“, beide in deutscher Erstaufführung. Vor allem Korkmaz’ Stück kommt gut an, und zwar wegen seiner diffusen Klangflächen, über denen dann vielleicht die Celesta, die Flöte oder das Cello spielt: angenehm abwechslungsreich, ohne aufdringlich zu werden.

Unter Vorsitz des Schlagzeugers und Kulturmanagers Jürgen Grözinger wird eine Publikumsjury entscheiden, welches der vielen neueren, neusten und brandneuen Stücke des Festivals am besten gefallen hat. Der „Europäische Komponistenpreis“, den es dafür gibt, gehört ebenso zum Inventar des Festivals wie die allabendlich vorgetragene Hymne zu Konzertbeginn, die in diesem Jahr Hans Schanderl komponiert hat. Und wie die vielen Patinnen und Paten, die Landes- und Musikkunde verbreiten sollen: Vicky Leandros wird heute Abend sprechen, vor dem Konzert des Orchesters der Aristoteles-Universität Thessaloniki, Anne Will kommt am Samstag, und einer der beiden Klitschkos hat sich für den 16. August angesagt. Neu ist hingegen das Moment des Picknicks: ein Bergfest aus Anlass des Konzerts des Schweizer Jugendorchesters, wofür es auf dem Gendarmenmarkt sogar grünen Rasen geben soll.

Die bestimmendste Konstante des Festivals jedoch ist: eine begeisterte Bewillkommnung der musizierenden Gäste, die die musikalische Leistung immer auch nutzt, um noch andere Zeichen zu setzen. Das ist der belustigendste, aber auch der schönste Effekt von young.euro.classic.

CHRISTIANE TEWINKEL

Bis 18. 8., tgl. 20 Uhr, Konzerthaus Berlin, Gendarmenmarkt, Mitte