Türkei auf Reformkurs

Parlament in Ankara beschließt das Ende der Todesstrafe und andere Reformen. Parteien hoffen auf rasche EU-Beitrittsverhandlungen

ISTANBUL taz ■ Todesstrafe abgeschafft, Neuwahlen beschlossen, Einführung des kurdischen Fernsehens und von Schulunterricht in Kurdisch – seit Montag holt das Parlament der Türkei in einer beispiellosen Sondersitzung alles nach, was durch die Blockade innerhalb der türkischen Regierung seit Monaten auf Eis lag. Seitdem das Parlament am Mittwoch vorgezogenen Neuwahlen zugestimmt hatte, wird über ein Paket an Reformen debattiert, die die Öffentlichkeit bereits seit Jahren beschäftigen. Das Paket ist jetzt im Rahmen einer Sondersitzung auf die Tagesordnung des Parlaments gelangt, weil die konservativen und die Mitte-links-Parteien hoffen, dass – nach einer Verabschiedung der Reformen auf dem EU-Gipfel im Dezember in Kopenhagen – die EU mit der Türkei den Beginn von Beitrittsverhandlungen beschließt.

Mit der Parole „Es geht um die Zukunft unserer Kinder“ waren Mesut Yilmaz, Chef der marktliberalen Anap, und Exaußenminister Ismail Cem in die Debatte gezogen. Für die Nationalisten der MHP und Teile der rechtskonservativen Islamisten ist das ganze Reformpaket dagegen ein Kotau vor der EU, der im schlimmsten Fall dazu führen wird, das Land zu spalten. MHP-Parteichef Bahceli, der nach der Spaltung von Ecevits DSP die stärkste Fraktion im Parlament anführt, macht seit Monaten Front gegen Zugeständnisse an die kurdische Minderheit und auch gegen die Abschaffung der Todesstrafe, vor allem weil damit PKK-Chef Abdullah Öcalan vor dem Strang gerettet wird. Nachdem die Nationalisten nun in der am meisten umstrittenen Frage der Abschaffung der Todesstrafe im Parlament unterlegen sind, wird nun wohl auch der Rest des Reformprogramms verabschiedet werden. Außer den Zugeständnissen an die Kurden sieht das Paket eine Verbesserung der Meinungsfreiheit, eine Erweiterung des Demonstrationsrechts sowie eine Verbesserung des Stiftungsrechts vor. Ein Bonbon für die EU, das den meisten Abgeordneten besonders leicht zu verabreichen zu sein wird, ist ein Gesetz gegen Menschenhandel, mit dem gegen Schlepper vorgegangen werden soll. Mit der Schlussabstimmung über das Reformpaket wird bis heute gerechnet. Danach ist dann Brüssel am Zug.

JÜRGEN GOTTSCHLICH