Größter Gletscher Europas in Gefahr

Der Vatnajökull fällt Aluminiumschmelzwerk zum Opfer. Jeder sechste Isländer gegen das drei Milliarden Dollar Projekt. Isländische Regierung hofft auf Wirtschaftswachstum. Ökonomen halten Projekt für absolut unrentabel und riskant

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Eine der größten unberührten Naturlandschaften Europas wird zerstört. Die Alcoa, größter Aluminiumproduzent der Welt, und die isländische Regierung unterzeichneten jetzt ein Abkommen über den Bau eines Aluminiumschmelzwerks an der Ostküste Islands. Dafür wird ein Wasserkraftwerk gebaut, das die Landschaft mehrere hundert Quadratkilometer rund um den Vatnajökull, den größten Gletscher Europas, zerstören wird.

Fast hatte es so ausgesehen, als ob die Proteste der UmweltschützerInnen erfolgreich sein würden. Seit Beginn der Neunzigerjahre diskutierten isländische Behörden und der norwegische Aluminium- und Energiekonzern Norsk Hydrowar das Projekt. Im März dieses Jahres hatte Norsk Hydro eine „Denkpause“ angekündigt, das Vorhaben dann für immer auf Eis gelegt. Zum einen war bei Norsk Hydro nach dem Kauf der deutschen VAW die Kasse leer, zum anderen sahen die Osloer die Gefahr, sich dem Zorn von Umweltschützern aus aller Welt auszusetzen.

Solche Rücksicht glaubt die US-Konkurrenz Alcoa offenbar nicht nehmen zu müssen. Mit dem Bau des mit 190 Meter europaweit höchsten Dammes sollen die Schmelzwasser des Vatnajökull in einem Staudamm aufgefangen werden, der zusammen mit Nebendämmen fast 100 Quadratkilometer unter Wasser setzen wird. Vor allem aber einen der naturschönsten isländischen Canyons, den Dimmugljúfur, „das dunkle Tal“. Neben einer Reihe weiterer kleinerer Staudämme werden in den Fels gesprengte Kanäle von zusammen 53 Kilometer Länge die gesamte Hydrologie des Gebiets ändern. Der große Gletscherfluss Jökulsá á Dal soll durch einen 40 Kilometer langen Tunnel aus seinem bisherigen Bett geleitet und mit dem Gletscherfluss Lagarfljót vereint werden. Flussbetten, Seen und mehr als 100 Wasserfälle werden trockengelegt. Im geplanten Kraftwerk Kárahnjúkar sollen 500 bis 700 Megawatt Strom erzeugt werden, um jährlich 350.000 Tonnen Aluminium herstellen zu können.

Das Kárahnjúkar-Projekt vergleichen UmweltschützerInnen mit Projekten der Stalinzeit zur Umleitung sibirischer Ströme: größenwahnsinnig und ohne Kenntnis der Folgen. Die isländische Bevölkerung ist zu Kárahnjúkar in zwei nahezu gleich große Fraktionen gespalten. 50.000 Protestunterschriften wurden bei einer Bevölkerung von gerade 300.000 EinwohnerInnen gesammelt. Doch das Parlament segnete Kárahnjúkar mit einer Mehrheit von 44 zu 19 Stimmen ab. Etwa 1.000 Menschen werden mit dem Bau beschäftigt sein, das Aluminiumwerk selbst dürfte einmal rund 500 Arbeitsplätze bieten. Für Islands Volkswirtschaft ein nicht unbedeutender Zuwachs an Jobs. „Die Zerstörung der Umwelt ist vertretbar angesichts der großen ökonomischen Gewinne, welche das Projekt mit sich bringt“, formuliert entsprechend die staatliche Energiebehörde.

Nach Meinung vieler isländischer ÖkonomInnen ist das jedoch fraglich. Alcoa hat sich zum Bau nach Island locken lassen mit dem Versprechen eines Strompreises von 2 Cent pro Kilowattstunde weniger als die Hälfte der Energiekosten in den USA. Die mehr als 3 Milliarden Dollar (3,033 Milliarden Euro), das ist ein Drittel des jährlichen Bruttonationalprodukts Islands, welche der isländische Fiskus für das ausschließlich mit öffentlichen Mitteln finanzierte Kárahnjúkar-Kraftwerk erst einmal vorstrecken und zum größten Teil auf den Kapitalmärkten leihen muss, werden, so der Volkswirt Thorsteinn Siglaugsson, „dieses Kraftwerksprojekt niemals rentabel machen“. Sigurdur Jóhannesson von der Arbeitgebervereinigung spricht von „sehr kurzsichtiger und äußerst riskabler Politik“, mit welcher der Staat in etwas investiere, „das nicht zum Besten der Allgemeinheit ist“. Selbst die staatliche Planbehörde hatte wegen solcher ökonomischer Unsicherheiten und der Folgen für die Umwelt Nein zum Projekt gesagt.

Alcoas Investitionen in das Aluminumwerk, die bedeutend weniger als ein Drittel der Kosten für das Strom liefernde Kraftwerk betragen werden, kommen zu einer Zeit, in der in der Aluminiumproduktion weltweit Überkapazitäten bestehen. Und angesichts vieler Pläne für Aluschmelzen vor allem in China dürfte sich die Situationen in Zukunft eher noch verschärfen.