Krebsrot ist die Scham

Seit dem Systemzusammenbruch steigt die Zahl der Brustkrebserkrankungen in Russland. Die betroffenen Frauen erwartet ein typisch russischer Leidensweg. Eine Langzeitbeobachtung

von BARBARA KERNECK

„Geliebt wird man für seine Originalität“, hat Jeljena* damals verkündet, im Juli 1997. Jeljena war kräftig, muskulös, ein Typ zum Pferdestehlen. Und sie lag mit acht anderen Frauen in einem Zimmer in der onkologischen Abteilung eines großen Krankenhauses am Rande eines Moskauer Stadtwalds. Alle hatten gerade eine Brustamputation hinter sich, bei Jeljena war es schon die zweite. Manche hatten Ehemänner. Manche lebten für sich. Jeljena, damals 44, wohnte als Einzige ohne Trauschein fest mit einem Lebensgefährten zusammen, dazu noch einem viel jüngeren. Deshalb fragten die anderen: „Hat er dich denn nach der ersten Operation immer noch gemocht? Hast du keine Angst, er könnte sich nun von dir abwenden?“ Aber dass der Krebs die Frauen dem Tod ein Stück näher gebracht hatte, daran dachten sie nicht.

Die Verdrängung des Wesens dieser Krankheit hat in Russland Tradition. Nicht etwa wegen „Krebsverdachts“ werden die Frauen zur Punktion geschickt, sondern wegen „Verdachts auf Erkrankung der Milchdrüse“. Selbst nach vollzogener Amputation steht in den ärztlichen Attesten für die Betroffene „Erkrankung der Milchdrüse“. Unüblich ist es, über das Geschehene mit nicht ganz engen Freunden oder mit Kollegen zu reden. Dabei sind Brustkrebserkrankungen in Russland alles andere als selten, und die Amputation ist meist die einzige Therapie, die angewendet wird.

Wer die kranken Frauen damals, im Sommer 1997, besuchte, fand erschreckend unhygienische Zustände vor. Auf den Gängen tummelten sich räudige Katzen aus dem Park, auf den Korridoren bröckelte der Putz, die Toilette war voll gepisst. Alle Frischoperierten hatten mit Wundinfektionen und Fieber zu kämpfen. Aber das hielten sie eben für normal, und sie freuten sich, dass sie ausreichend zu essen bekamen und auf Wunsch sogar sofort frische Bettwäsche, die es zur Sowjetzeit nur gegen Bakschisch gab.

Inzwischen hat sich in dem Krankenhaus vieles geändert. Korridore und Zimmer sind heute hell gestrichen, die Katzen verbannt, die Toiletten sauber. Nur die Gespräche der Patientinnen sind immer noch die gleichen.

Auch in der medizinischen Krebsvorsorge hat sich in der Stadt Moskau so manches verbessert. Die Professorin Larissa Markowna Burdina ist eine ebenso hilfsbereite wie Autorität ausstrahlende Blondine jenseits der Fünfzig. Sie leitet eine von insgesamt zwei Filialen des Moskauer Mammologischen Prophylaxezentrums, untergebracht in einer hübschen Villa im hügeligen Altstadtteil Krasnaja Presnja. In diesem Jahr kommt ein zweites, modernes Gebäude im Garten hinzu. „Früher wussten nicht einmal Lehrstuhlinhaber, was das ist: ein Mammologe“, sagt sie. „Jetzt gibt es in den Polikliniken aller Bezirke mammografische Kabinette. Aber wir hier sind die Kompetentesten, bei uns arbeiten fünf Röntgenologen, fünf Onkologen, ein Laborant und diverse Assistentinnen zusammen. All unsere Apparate sind neu, viele aus dem Ausland. Außer vier Röntgengeräten haben wir noch einen Radiothermografen und ein Ultraschallgerät. Wir führen Punktionen durch und stellen selbst zytologische Diagnosen.“

Die Dienstleistungen der beiden Außenstellen sind für alle Bürgerinnen Moskaus unentgeltlich, sie werden von der Gemeinde bezahlt. An beide zusammen wenden sich über hunderttausend Frauen im Jahr– dies bei neun Millionen offiziell registrierten Einwohnern, von denen über die Hälfte Frauen sein dürften. Außerhalb der Urlaubszeit ist es vor lauter Wartenden schwierig, in den Korridoren voranzukommen. Auf die Frage, wie es denn in anderen russischen Städten so stehe, antworte Larissa Markowna, sie wisse von mehreren ähnlichen Einrichtungen anderswo: „Überall tut sich was, die Aufmerksamkeit für dieses Organ ist sehr viel größer geworden.“ Den Grund dafür, dass sich jetzt auf diesem medizinischen Sektor allerlei bewegt, muss sie allerdings bedauern: „Die Anzahl der Erkrankungen ist bei uns in den letzten beiden Jahren sprunghaft angestiegen.“

„Kein Wunder“, kommentiert Xenija, Jeljanas damalige Zimmergenossin. „Anfang der Achtziger- und zu Beginn der Neunzigerjahre hatten wir doch den Zusammenbruch des gesamten Versorgungssystems auszubaden. Da konnte es vorkommen, dass du in einem riesigen Lebensmittelgeschäft bloß eine Dose Sprotten vorfandst. Das war die Zeit, in der kaum eine Mutter in diesem Lande wusste, wie sie ihre Familie satt bekommen sollte. Viele ackerten an zwei Arbeitsplätzen gleichzeitig und schleppten auch noch von weit her in überfüllten Bussen Lebensmittel heim. Heute bekommen all diese Frauen für ihre jahrelange Überlastung die Quittung. Wenn’s nicht das Herz ist, dann eben irgend so ein Krebs.“

Auch Larissa Markowna vermutet in stressbedingten hormonellen Veränderungen die Hauptursache für die Zunahme der Erkrankungen: „Wenn man davon ausgeht, dass so ein Brustkrebs viele Jahre braucht, um sich zu entwickeln, dann wissen wir, woher wir diesen Krankheitsboom haben. Die ganze Last des gesellschaftlichen Umsturzes in unserem Lande hat auf den Schultern der Frauen gelegen.“

Über das Verhältnis der organerhaltenden Operationen zu den Amputationen (in Deutschland achtzig zu zwanzig) kann oder will die Professorin keine Aussagen machen. Doch auch sie nimmt an, dass in Russland der Anteil der Amputationen relativ hoch ist. Den Grund dafür sieht sie darin, dass die meisten Frauen sich viel zu spät an sie wenden. Nur zweihundert bösartige Knoten, die im Jahr 2001 hier diagnostiziert wurden, befanden sich im allerersten Stadium ihres Wachstums, über 650 bereits im zweiten; in den noch weiter fortgeschrittenen Stadien waren es wieder weniger.

Larissa Markowna konstatiert einen Mangel an medizinischer Kultur: „Die Früherkennung wurde lange nicht genug propagiert. Viele Frauen wenden sich kaum jemals an einen Arzt. Außerdem rächt die Natur sich für Veränderungen des reproduktiven Verhaltens.“ Sie spielt damit darauf an, dass Abtreibung in Russland noch immer die zentrale Methode der Schwangerschaftsverhütung ist. Die Milchdrüsen verändern sich schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft, nicht immer bilden sie sich nach einem Abbruch zurück. „Überhaupt schaden viele Angewohnheiten des modernen Lebens der weiblichen Gesundheit“, meint die Professorin und fügt dann etwas unvermittelt hinzu: „Sehr wenig wünschenswert unter all diesen Gesichtspunkten ist vor allem die Gottlosigkeit.“

Da wir schon einmal bei der Seele sind: Das Verständnis dafür, dass auch ein Psychologe bei einer auf den ersten Blick rein körperlichen Krankheit von Nutzen wäre, ist in Russland kaum vorhanden. „Dabei treten bei den betroffenen Frauen die unwahrscheinlichsten Probleme auf“, sagt Larissa Markowna: „Eine sagte mir neulich: Wie soll ich denn nach so einer Operation noch mein Kind an mich drücken?“

Krebsrot ist die Scham. Beim Umgangston des medizinischen Personals bekommen die kranken Frauen so manches Mal heiße Köpfe. „Du wirst ein Krüppel! Deine ganze linke Seite wird vertrocknen, wenn du nicht mal das bisschen Gymnastik machst!“, so schrie der Stationschef einmal Xenija an. Als Koryphäe duzt er prinzipiell alle seine Patientinnen und fertigte sie in den Sprechstunden eilig, oft ruppig ab: „Er ließ mir nicht einmal Zeit, mein Nachthemd irgendwie am Körper zu halten“, sagt Xenija. Und doch nehmen alle Frauen den Chefarzt in Schutz. „Er muss ja ein bisschen grob mit solchen wie uns umgehen“, überlegt Xenija: „Wenn er sich keine dicke Haut angeschafft hätte, wie sollte er als Mann es fertig bringen, in einen schönen Frauenkörper so einfach ritsch, ratsch reinzuschneiden?“

Der Gedanke an die weibliche Brust gilt meistens auch dem Sex. Und bei Xenija immer. Mit ihrer linken Brust hat ihr der Krebs auch den Zugang zur eigenen Sexualität abgezwickt. Von „der gewissen Beschäftigung“ habe sie sich nun verabschiedet, erzählt sie. Es gebe ja noch so viele andere Freuden im Leben: gutes Essen, Theater. Vor einem Jahr allerdings, da hat sie noch einmal so etwas wie einen Flirt gehabt. Und weil man ihr das Defizit dank der guten Prothese nicht ansieht, hat sie den Interessenten ganz vorsichtig gefragt, wie er sich denn fühlen würde, wenn er mit einer Frau ins Bett stiege, von der sich dann herausstelle, dass sie brustamputiert sei. „Betrogen, so, als hätte mir ein Dieb in die Tasche gegriffen“, antwortete er.

„Natürlich gibt es viele andere Dinge außer Sex, die Paare zusammenhalten, den Haushalt, die Datscha“, spekuliert Xenija. Aber haben nicht all die Männer der verheirateten Frauen diese damals in jenem Krankenzimmer besucht und umsorgt? „Was blieb ihnen auch anderes übrig“, kommt spitz die Antwort: „Schließlich waren sie selbst an der Krankheit schuld. Eine Frau hat uns direkt erzählt, dass ihr Mann sie oft auf den Busen geschlagen hat.“

Unsere Männer sind besser als ihr Ruf“, meint dagegen Larissa Markowna: „Hin und wieder berate ich Frauen, die glauben, sich erst dann wieder vollwertig fühlen zu können, wenn sie eine Brustplastik durchführen lassen. Das ist mit viel Schmerzen verbunden, weil das notwendige Gewebe ja an anderen Stellen des Körpers entnommen werden muss. Und fast immer stehen die Ehemänner oder Freunde kopfschüttelnd daneben, wissen nicht, wozu das Ganze gut sein soll, und versuchen, ihre Liebste davon abzubringen.“

Wie frau sich nach so einer Operation bewegen und ernähren soll, wie sich vor der großen Depression schützen, dafür finden sie in Moskau nur spärliche Tipps. Ende 2001 existierte nur eine wenig bekannte Selbsthilfegruppe in einem entlegenen Vorort. Die meisten Brustamputierten bekommen es hingegen früher oder später mit einer Behörde zu tun: mit dem „Föderalen Zentrum für medizinisch-soziale Expertisen und Rehabilitation von Invaliden“. Hier werden, auch an die Allerärmsten, unentgeltlich Objekte verteilt, die selbst die Gesichter deprimierter Frauen direkt nach der Operation aufstrahlen lassen: pro Jahr eine Brustprothese, dazu drei Büstenhalter.

„Kabinett für Milchdrüsenprothesierung“ steht am Eingang. „Die notwendigen Gelder bekommen wir vom Fiskus, aber die Prothesen und Büstenhalter werden von Privatfirmen hergestellt. Zwischen beiden öffnet sich eine Finanzierungsschere. Und das ist unsere Hauptschwierigkeit“, sagt Nadjeschda Viktorowna Inglessi. „Bis zur Rubelkrise im Herbst 1997 lieferte uns auch eine spezialisierte deutsche Firma Büstenhalter. Die waren sehr hübsch, aber leider auch sehr teuer.“

Letztes Jahr wurde hier eine Stelle gestrichen. Jetzt sind sie nur noch zu zweit: Frau Inglessis einzige übrig gebliebene Mitarbeiterin, eigentlich Schneiderin, wurde im Rang befördert. Wozu eine Schneiderin? „Na ja“, sagt Nadjeschda Viktorowna stolz: „Jeder Frau passen wir hier den BH ganz individuell an. Sowieso führen wir ständig vier Grundtypen, und alle in einer Auswahl von Farben und Materialien. In Deutschland gibt es über zehn solcher Basismodelle. Ihr besitzt dort eben eine gewisse Würde in diesen Dingen. Aber auch wir haben unsere Raffinessen.“

Die Prothesen spielen eine wichtige Rolle bei der Rehabilitierung des Bewegungs- und Stützapparats. Meist lässt Frau Inglessi die Anprobierenden mehrmals den Arm auf der amputierten Seite heben, eine Geste, die die Frauen nach der Operation erst wieder lange und mühsam üben mussten. Aber das Beherrschen gerade dieser Geste kann sie um die wenigen Gratifikationen bringen, die ihnen ihr Leben erleichtern sollen. „Heben Sie den Arm!“, kommandierte der weibliche Zerberus bei der Medizinisch-Sozialen Expertenkommission, als Xenija zwei Jahre nach der Operation dort vorsprach. Und als ihr dies mühelos gelang, kam schon zwei Minuten nach der Begrüßung die Schlussfolgerung: „Sie sind völlig gesund, Sie brauchen keine Invaliditätsgruppe!“

Die Medizinisch-Sozialen Expertenkommissionen existieren in allen Stadtteilen bei Spezialkliniken. Nach den ersten beiden postoperativen Jahren, in denen brustamputierten Frauen automatisch ein Invalidenausweis zusteht, entscheiden diese Gremien, ob und in welchem Ausmaß dieser Status verlängert werden kann. In diesem Moment beginnt für die Brustkrebskranken in Russland der Kampf um ein klitzekleines Plätzchen an der sozialen Sonne. Am Ende finden sich viele amputierte Frauen in der Rolle wieder, die im 19. Jahrhundert die altjüngferliche Muhme am Tische einer Kaufmannsfamilie einnahm: die einer entsexualisierten Bittstellerin. „Ich fühle mich von meinem Staat betrogen“, sagt Xenija: „Für ihn wäre es besser, wenn wir sozial Schwachen, wir Rentner und Invaliden nicht überlebten.“

Die „Kommission“ steht den Betroffenen jedes Jahr bevor, wie ein lebenswichtiges Examen. Etwa eine volle Woche verbringen sie jedes Mal mit dem Sammeln der notwendigen Test- und Untersuchungsergebnisse: praktischer Arzt, Gynäkologe, Röntgenuntersuchung, Bluttest, Urinanalyse. „Wo tut es Ihnen weh?“, zitiert Xenija die Begrüßungsfrage der Kommissionsbeamtin und erzählt dann weiter: „Wenn ich sage: Ich habe neulich soundso einen Anfall gehabt, kommt nur die Gegenfrage: Und wo ist das Dokument, das Ihren Schmerz bezeugt?“

Alle, die den ersten drei Invaliditätsgruppen angehören, dürfen die städtischen Verkehrsmittel umsonst benutzen, ihnen wird in staatlichen Häusern die Hälfte der Miete erlassen, sie bekommen gewisse Medikamente umsonst und erhalten in den Monaten von Oktober bis Mai fünfzig Prozent Rabatt bei Eisenbahn- und Flugreisen innerhalb Russlands. Wenig reisen wird, wer in die erste Invaliditätsgruppe eingestuft worden ist – das sind ohnehin nur Todgeweihte. Wer es in die zweite Gruppe schafft und als „nicht arbeitsfähig“ eingestuft wird, erhält immerhin eine Rente von umgerechnet etwa 1.400 Rubel, das sind 45 Euro. Gefürchtet ist dagegen wieder die dritte Gruppe: „bedingt arbeitsfähig“. Unter diesem Etikett finden sich viele Frauen wieder, die aufgrund langer Krankheit ihre Arbeit verloren haben und nun, meist in einem Alter um die Fünfzig, nicht mehr vermittelbar sind. Sie werden mit dreihundert bis vierhundert Rubel formal entschädigt.

„Wenn Sie nicht mit den Händen arbeiten können, dann arbeiten Sie doch mit den Beinen. Wenn Sie nicht tippen können, dann wird sich doch wohl noch eine Stelle als Concierge oder Garderobiere für sie finden“, schildert Jeljena die behördlichen Kommentare zu ihrem Kampf um die zweite Invaliditätsstufe. Inzwischen hat sie den Kampf gewonnen. Doch viereinhalb Jahre nach der zweiten Amputation traten bei ihr neue Metastasen und schwere Entzündungen in Magen und Darm auf. Übrigens ist der jüngere Lebensgefährte immer noch bei ihr. „Das ist ein großes Wunder“, sagt Jeljena.

Wunderlich dagegen, scheint der Umgang der Medizinisch-Sozialen Expertenkommission mit den Invalidenausweisen zu sein. Deren Anzahl ist offenbar kontingentiert. Nicht für alle, die krank genug sind, reichen die begehrten Papiere und Vergünstigungen aus. Und nicht alle, die schließlich einen Ausweis erhalten, scheinen wirklich so krank zu sein. Jedenfalls berichtet Xenija, dass eine Frau auf dem Amtskorridor ihr zugeflüstert hat, ein Kommissionsmitglied habe von ihr für einen Ausweis der zweiten Gruppe die Summe zweier der damit verbundenen Monatsrenten gefordert. Ein Versuch, ein Interview mit der einen oder anderen Dame aus der Kommission zu erhalten, scheitert an deren Umgangsformen. Etwa zwanzig Anrufe unter verschiedenen Nummern ergeben das gleiche Resultat. „Welche Poliklinik hat Sie geschickt?“, fragt jeweils eine matte Stimme am anderen Ende. Nach der Auskunft: „Keine, es geht um ein anderes Anliegen!“, knallt jedes Mal der Hörer auf die Gabel.

Ein derart abgeschotteter Betrieb fordert einen Besuch geradezu heraus.

Der Sitz dieser Medizinisch-Sozialen Expertenkommission befindet sich in einer Jugenstilvilla in einem stillen Sträßchen nahe einer Vorort-Metrostation. Es ist Abendsprechstunde, kurz vor Toresschluss. Vor dem Hintergrund der wasserblauen Ölfarbe an den Wänden wischt eine Putzfrau das Parkett und fährt Besucherinnen an, die die Informationsschilder lesen: „Machen Sie das eigentlich absichtlich, dass Sie gerade hierhin treten, wo ich eben gefeudelt habe?“ Ein Auskunftsschild besagt: „Kleidung ohne Aufhänger wird nicht angenommen!“ Aber Aufhänger annähen lohnt sich kaum, denn ein anderes Schild verkündet, dass für die hier abgegebene Garderobe niemand haftet. Entgegen nimmt die Mäntel, Pelze und Felljacken eine ausgemergelte Blondine von morbider Blässe. Sie blickt dabei niemandem ins Gesicht. Ob es wohl die „Kommission“ gewesen ist, die sie an diesen Arbeitsplatz verbannt hat?

Im zuständigen Korridor schießen bisweilen panzerartige Damen von der Kommission aus ihren Türen und fordern einzelne Patientinnen ungehalten auf, ihre Angaben zu präzisieren. Viele sind es nicht, die da warten. Etwa zehn Frauen verschiedenen Alters haben sich an diesem nasskalt-windigen Abend hergekämpft. Gleich die erste Angesprochene erweist sich als brustamputiert und ringt hier um ihre Invaliditätsstufe. „Schauen Sie nur selbst“, entgegnet sie auf die Frage nach der Natur dieser Institution: „Wie die Frauen in die Kabinette hineingehen und wie sie herauskommen. Hinein gehen sie als normale Menschen, heraus kommen sie mit Tränen in den Augen!“

Doch zu Tränen reicht es an diesem Abend nicht. Von den übrigen Wartenden wollen die jüngeren lediglich eine Untersuchung beantragen, die reiferen befinden sich bereits im Pensionsalter und brauchen deshalb für keine Rente mehr zu kämpfen. Die Garderobiere händigt bereits die letzten Mäntel aus. Neben ihr hängt noch ein Schild: „Übergeordnete Instanz: Verwaltung für die Organisation und Kontrolle der Qualität medizinischer Hilfe für die erwachsene Bevölkerung“.

Das ist offenbar die Stelle, bei der frau sich beschweren kann, falls sie den Mumm dazu hat. Jemand gibt der Blondine zehn Rubel Trinkgeld. Sie wehrt sich heftig. „Nehmen Sie nur! Wenn Sie im Theater arbeiten würden, gäb’s ja auch etwas!“, ruft ihr eine Patientin im Gehen zu. Da glimmt ein sparsames Lächeln in den halb abgewandten Augen der Garderobiere auf.

* Die Namen der Kranken wurden geändert.BARBARA KERNECK, 55, arbeitet seit vierzehn Jahren als freiberufliche Journalistin in Moskau und Berlin