Strafmaß: vierfache Vergewaltigung

In Pakistan löst ein perverses Stammesurteil einen Proteststurm aus. Vergewaltigungsopfer und Imam zeigen Mut

DELHI taz ■ Die Polizei der pakistanischen Provinz Punjab sieht sich seit Wochen mit einer Flut von Vergewaltigungsklagen konfrontiert. Ländliche Polizeistationen berichten, dass fast täglich eine Frau Klage einreicht, ein Vielfaches der bisherigen Rate. Auch die Nationale Menschenrechtskommission erhält jetzt viele Hilferufe von Frauen, die sich bisher vor einer Aussage schämten oder wegen ihrer „Familienehre“ zum Schweigen gezwungen waren. Die prominente Frauenrechtlerin Asma Jehangir sieht den Grund dafür im Aufsehen, das der Fall von Muchtaran Bibi im ganzen Land erregt.

Die Perversion des an dieser Frau verübten Verbrechens zwingt den Staat, rasch einzugreifen. Dies macht nun vielen Frauen Mut, ihr Schweigen zu brechen. Die Menschenrechtskommission ihrerseits hat erneut eine Kampagne gestartet, um eine Abschaffung des entsprechenden Straftatbestands im islamischen Recht zu erreichen. Demnach muss eine vergewaltigte Frau zwei Zeugen beibringen, damit ihr geglaubt wird. Sonst droht ihr selbst eine Verurteilung wegen Ehebruchs.

Muchtaram Bibi, eine 30-jährige Frau aus dem Dorf Meerwala im Süd-Punjab wurde am 22. Juni vor ein Dorfgericht zitiert. Ihr elfjähriger Bruder war zuvor von Männern des dominerenden Mastoi-Stamms vergewaltigt worden. Um zu verhindern, dass der Knabe ausplaudert, sperrten die Täter ihn mit einer Frau ihres eigenen Stamms in eine Kammer, riefen die Polizei und erhoben Anklage wegen „widernatürlichen Umgangs zwischen Angehörigen verschiedener Stämme“ – der Knabe stammt aus der armen Gujar-Kaste.

Die Polizei entließ ihn wegen seines Alters, riet aber dem Vater, eine seiner Töchter vor den Stammesrat der Mastoi zu schicken, um sich zu entschuldigen. Diesem genügte das nicht. Bibi Muchtaram wurde gemäß tribaler Sippenhaftung für schuldig befunden, und das Urteil sogleich vollstreckt: Vier Männer schleppten sie in ein nahes Feld und vergewaltigten sie. Darauf musste sie halb bekleidet durch ein Spalier von 300 Dorfbewohnern nach Hause laufen. Wie die meisten Verbrechen dieser Art wäre wohl auch dieses im Schweigen der patriarchalischen Gesellschaft verschwunden, wenn nicht Abdul Razzaq davon gehört hätte. Der Dorfprediger von Meerwala war so erzürnt, dass er beim nächsten Freitagsgebet das Schicksal von Bibi als schwere Verletzung des Islam verurteilte. Lokale Zeitungen griffen den Fall auf. Im ganzen Land erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der den Staat zu raschem Handeln veranlasste.

Die vier mutmaßlichen Täter und die elf Dorfräte wurden verhaftet, der Provinzgouverneur besuchte die Familie, und Präsident Pervez Musharraf verordnete die Zahlung eines Schmerzensgeldes an Muchtaram Bibi. Sie hatte sich zuerst das Leben nehmen wollen, so wie eine junge Frau in einem Nachbardorf, die sich nur eine Woche nach der Tat an Bibi mit Düngemitteln vergiftete, als sie ihre Vergewaltiger aus dem Polizeigewahrsam entkommen sah.

Muchtaram Bibi dagegen beschloss, das Risiko eines späteren Racheaktes der Mastoi auf sich zu nehmen und als Zeugin aufzutreten. Bereits einen Monat nach der Tat erhob der Staatsanwalt vor dem Gericht in Dera Ghazi Khan am vergangenen Freitag Anklage. Gestern trat Bibi und ihr Bruder nach Aussagen ihres Anwalts erstmals im Prozess auf, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.

Den vier Tätern und den beiden Vorsitzenden des Dorfrats droht die Todesstrafe – zumindest theoretisch. Denn in einem anderen Dorf der Provinz, so berichtete die Zeitung Dawn, entgingen vier Mörder dem Strang, weil sich ihre Familien bereit erklärten, der Familie der Opfer Kompensation zu zahlen.

Diese bestand aus Gold und – zwei minderjährigen Mädchen als Bräute für zwei Männer, die ihre Großväter sein könnten. Auch hier ist es die Scharia, die diesen vom Obersten Gericht inzwischen unterbundenen Schacher ermöglicht. Sie erlaubt es der Familie eines Opfers, einen zum Tod Verurteilten zu begnadigen. BERNARD IMHASLY