Missmut geht um in Europa

Krise des Kapitalismus (2): Anleger, Unternehmer und Politiker schauen gelähmt auf den Niedergang der Wirtschaft. Konzepte für den Aufschwung haben sie nicht

Demotivierte Politiker sollen den Betrieb in Gang halten, ohne die Mittel dafür zu besitzen

Seit Monaten liegt Missmut über Europa. Das immer wieder neue Aufflackern von Erwartungen und sein ebenso promptes Erlöschen zermürbt die Wirtschaftsmoral. Und nun noch die Absage des versprochenen Aufschwungs in den USA, an den man sich klammern wollte.

Es ist nicht einfach Krisenangst, die in zyklischer Wiederkehr umgeht. Die Krisen haben wir bereits hinter uns. Wenn beim plötzlichen Versacken der Sumpfblüte Dotcom die Experten und die Wirtschaftsjorunalisten noch von der fälligen und notwendigen Reinigungskrise sprachen, so lassen sie das mittlerweile bleiben. Es ist nichts bereinigt. Und wenn von den zehn größten Firmenzusammenbrüchen der amerikanischen Geschichte sich vier allein in diesem Jahr ereignet haben, so kann man das schwerlich auf die notwendige Erneuerung einer an sich gesunden Marktwirtschaft zurückführen.

Diesmal ist es mehr als eine normale Krise im Gang der Konjunkturen, der business cycles. Die fortwährende Antriebsschwäche hat alle Wirtschaftssubjekte zugleich erfasst. Und so verbindet sich die allgemeine Antriebsschwäche mit dem Gefühl der eigenen Inkompetenz und der Inkompetenz aller anderen, voran der Institutionen.

Antriebsschwach sind die Erwerbsbürger, denen man seit einigen Jahren den Ehrentitel des Anlegers aufgeklebt hat. Nicht wenige fühlten sich auch als solche. Seit den frühen 90er-Jahren hat sich die Zahl der Aktionäre in Deutschland verfünffacht. Rund dreizehneinhalb Millionen gibt es jetzt, mehr als die Hälfte von ihnen disponiert auch selbst, meist per Internet. Wenn auch viele mit ihrem Papier wenig in der Hand halten, loswerden wollen sie es nicht. Sie bleiben damit noch immer – kleine – Unternehmer, auch wenn sie ihr Entbehrliches wieder ins Sparbuch einschreiben und auf Festverzinsliches setzen.

Die Millionen der europäischen Kleinaktionäre, die ihren Besitz der Entstaatlichung verdanken, schienen das Wesen des Marktes begriffen zu haben. Man nahm an, dass sie sich, wenn auch in kleinem Rahmen, unternehmerisch verwirklichen wollten und könnten. Mag bei den meisten die bloße Bereicherungsgier des Schnäppchenjägers das Hauptmotiv gewesen sein, vorübergehend gab das ein paar erhebende Gefühle.

Nun stellt sich heraus, dass der kleine Aktionär noch lange kein kleiner Kapitalist geworden ist und vom Kapitalismus so gut wie nichts versteht. Das macht ihn erst einmal lustlos und beschämt. Noch schlimmer, wenn er seinen Arbeitsplatz in dem von ihm mit besessenen Unternehmen hat – oder gar schon hinter sich hat. Er ist der doppelt Blamierte.

Antriebsschwach und der Inkompetenz überführt sind auch viele Großanleger und Großmanagements. Sie müssen sich von den betrogenen Aktionären und den entlassenen Arbeitnehmern vorwerfen lassen, dass sie auf sich selber hereingefallen sind. Mit ihrer Gier nach Erfolgsoptionen, so der Vorwurf, hätten sie nicht nur ihr Unternehmen und seine Geldgeber ruiniert, sondern auch die Wirtschaftsmoral.

Die neue Schicht der finanzkapitalistischen Großmanager, die ebenfalls gelähmt und mit Schadensbegrenzung beschäftigt sind, zeigt freilich bisher wenige Reue. Diese Schicht hat sich erst während des vergangenen Jahrzehnts herausgebildet und das Kommando übernommen. Sie ist hochgekommen mit der Ausbreitung der Dienstleistungsökonomie, die viele solide Erfahrungen aus der alten Industriegesellschaft hinweggefegt hat. Die Dienstleistungsökonomie, die zahlreiche Condottieri der Wirtschaftsführung für ein paar Jahre nach oben gespült hatte, stützte sich auf das weite Spektrum der Kommunikationstechniken.

Von der Chip- und der Computerindustrie über das Mobiltelefon bis zum digitalisierten Entertainment, mit dem sich die Popkultur verbinden ließ: diese IT-Kultur, die den ganzen ökonomischen Großzyklus der letzten 15 Jahre trug, stürzt nun ein. In allen ihren Industriezweigen, ebenfalls von der Chipproduktion bis zum Entertainment. Das hebt, zumindest moralisch, eine ganze Generation von Managern und Experten aus dem Sattel. Sie hat nichts in der Hand als die Geschicklichkeit zum Umgang mit einer Finanzspekulation, die sich selbstreflexiv bewegt und von den realen Wirtschaftsbedingungen nur wenig Ahnung hat.

Fatal war die Überzeugung dieser Managergeneration, man könnte zur Entfaltung freien Unternehmertums und zur Förderung der Wohlfahrt den Staat zurückdrängen, ohne dafür Kompensationen zu leisten. Dies ist auch zur bequemen Überzeugung der prosperierenden Mittelschichten geworden.

Kein Wunder, wenn nun der Staat antriebsschwach ist und inkompetent erscheint. Das deprimiert und entmotiviert die Politiker, die den öffentlichen Betrieb in Gang halten sollen, ohne die Mittel dafür zu besitzen. Sie sehen sich gezwungen, mit kosmetischen Tricks zu arbeiten und mit ungedeckten Versprechungen weiterzukommen. Sie müssen vorgeben, es gebe einen Arbeitsmarkt, der vom Staat und somit politischer Weisheit zum Vorteil beeinflusst werden könne. Die Medien tun ebenso. Das Publikum glaubt es zwar nicht, macht aber mit – mangels Alternative. Alle halten gemeinsam an einer Lebenslüge fest.

Der kleine Aktionär ist kein kleiner Kapitalist. Er versteht vom Kapitalismus so gut wie nichts

Zwei besonders niederdrückende Erfahrungen kamen in den letzten Jahren hinzu. Zum einen mussten die Regierungen und die internationalen Agenturen erleben, dass zwei ihrer bisher wirksamen Hebel zur Förderung von Wachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen versagten: niedriger Zins und Steuersenkung. Beides trieb man fast bis zum Extrem, beides verpuffte im Leeren. Die Anleger ließen sich dadurch nicht zu neuer Tätigkeit verlocken. Und die Steuerbegünstigten transferierten ihren Gewinn in die internationalisierten Märkte, ohne Gewinn fürs eigene Land und seine Arbeitsplätze. Derweil mussten sich die Staaten weiter verschulden.

Die zweite schlimme Erfahrung hat man erst in diesem Jahr gemacht: Die reale Wirtschaftstätigkeit und die Börse treten nicht mehr im Gleichklang auf. Es kann, wie vor allem Amerika vorführt, anständiges Wachstum geben, auch wenn die Börsenindizes beharrlich nach unten weisen.

Mit anderen Worten, die Aktienwerte und ihre Ausschläge signalisieren nicht mehr, was die Wirtschaft wirklich leistet; das wichtigste Orientierungsmittel für Aktionäre, Unternehmen und Staat wird unzuverlässig. Und dies heißt, das niemand zuverlässige Zukunftserwartungen formulieren kann.

So kommt es denn auf allen Seiten zu Verweigerungen. Die Konsumverweigerung in den USA und in Europa ist von allen die schmerzlichste. Sie indiziert prinzipielles Misstrauen ins System, weist aber keine neuen Wege. Schließlich drängt es in einer Welt der allgemeinen Unsicherheit und der Erwartungslosigkeit niemanden ganz aus dem System hinaus. Und niemand kann sich mit Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit empören. Da kann der Missmut noch lange währen. CLAUS KOCH