Depots unter Wasser

Lebensversicherer garantieren ihren Kunden Zinsen. Deren Beiträge sind in fallenden Aktien angelegt

von REINER METZGER

Jeder Meteorologe wäre längst entlassen, gäbe er derart schlechte Voraussagen von sich wie Konjunktur- und Börsenspezialisten. Seit Monaten wird vom Aufschwung geredet, ob nun an der Börse oder beim Wirtschaftswachstum in den USA oder Europa. Doch er kommt nicht, und er ist weiter weg denn je.

Angesichts fallender Kurse sprachen die Aktienverkäufer der Banken in den vergangenen Wochen von einer „totalen Entkoppelung“ von Wirtschaftslage und Börsenkurs. Es sei doch bekannt, dass kurz nach dem 11. September weltweit die Konjunktur ebenso wieder anziehe wie der Konsum. Auf Dauer wirke die „reale Wirtschaft“ bei den Aktienkursen und bringe bald die Gewinn sichernde Aufwärtstendenz zurück.

Pustekuchen. Gestern präsentierten die Wirtschaftsforscher vom Münchner ifo-Institut ihren viel beachteten Geschäftsklimaindex. In einer monatlichen Umfrage geben 7.000 deutsche Manager an, wie sie die kommenden sechs Monate einschätzen. Und siehe da: „Überraschend“ hat sich das Geschäftsklima im zweiten Monat in Folge verschlechtert, und zwar deutlich. Der Aufschwung rückt also immer weiter in die Zukunft. Die Investitionen der Unternehmen bleiben niedriger als erwartet und damit auch die Neueinstellungen. „Eine so nicht unbedingt erwartete Verlangsamung im Aufschwungprozess“, nannte das gestern ifo-Chefvolkswirt Gernot Nerb.

Verstärkt wird die lahmende Konjunktur inzwischen von den Börsen. Dort stürzten die Aktien seit Wochen ab, derzeit schwanken sie wie höchstens noch 1998, als die russische Regierung erklärt hatte, sie zahle ihre Schulden nicht mehr. Die an den Finanzmärkten gehandelten Wetten auf die Entwicklung des DAX in den nächsten sechs Wochen schwanken als Ausdruck großer Verunsicherung zwischen 2.900 und 4.300 Punkten. Noch nie seit der – allerdings in keiner Weise vergleichbaren – Weltwirtschaftskrise nach dem berüchtigten Schwarzen Freitag 1929 hat die Erholung der Aktienkurse so lange gedauert wie derzeit. Seit März 2000 fallen nun die Kurse – der DAX etwa von 8.000 auf unter 4.000 Punkte.

Der Verfall der Börsenwerte verstärkt sich inzwischen selbst. Nicht nur, dass selbst der bräsigste Kleinanleger krampfhaft überlegt, wie er seine Verluste minimiert. Inzwischen müssen einige große Investoren verkaufen – allen voran die Versicherungen. Und daraus erwächst die größte Gefahr für die Wirtschaft. Kredite werden teurer, weil die Banken verunsichert sind; Firmen entlassen lieber, als zu investieren. Der Gang an die Börse und damit neues Kapital ohne Kreditaufnahme entfällt derzeit praktisch.

Vor allem deutsche Lebensversicherer spüren, wie der Gefahrenpegel steigt. Sie müssen per Gesetz eine Verzinsung ihrer Beiträge von mindestens 3,25 Prozent pro Jahr garantieren. Diese Verzinsung kommt aus ihren angelegten Versicherungsbeiträgen. Und diese wiederum wurden während des Börsenbooms immer mehr in Aktien gesteckt. Zeitweilig hielten die Lebensversicherer angeblich jede dritte deutsche Aktie. Wenn nun die Kurse über Jahre fallen, schaffen sie die gesetzlich vorgeschriebene Verzinsung nicht. Ihre Depots sind „unter Wasser“, wie es im Branchenjargon heißt.

Besserung ist nicht in Sicht, nun müssen sie die Verlust bringenden Aktien in den fallenden Markt verkaufen – ein Verlustgeschäft. Wie sehr die Branche verunsichert ist, zeigt dieses Vorhaben: Die deutschen Versicherer wollen ein Konsortium gründen, dass bei Pleiten in ihren Reihen die Kunden auf die übrig gebliebenen Gesellschaften verteilt. Immerhin hat jeder Deutsche im Schnitt eine Lebensversicherung als Zusatzrente abgeschlossen. Die lukrative Kundschaft soll auf keinen Fall verunsichert werden. Denn das Letzte, was die Finanzbranche gebrauchen kann, ist weitere Panik. Wenn Versicherungen und in der Folge auch die Banken in wirkliche Schwierigkeiten kommen, wird die Krise noch länger bleiben, als es sich selbst pessimistische deutsche Manager in Umfragen vorstellen können.