Langsam tut‘s weh

Die US-Amerikaner sehen nicht den Kapitalismus als die Wurzel des Problems, sondern einen Mangel an Moral

NEW YORK taz ■ Als im Dezember der US-Energieriese Enron in einem Strudel gefälschter Bilanzen unterging, wollten alle noch glauben, dass es sich um einen Einzelfall handelt. Doch spätestens seit auf die Enron-Pleite die noch viel größere WorldCom-Pleite folgte, ist Präsident George Bush der Letzte, der versucht, die Börsenkrise kleinzureden.

„Die Bilanzen und dieser Unternehmenskram, ist das wichtig?“, fragte der Präsident jüngst in einer seiner Reden. „Ist es nicht wichtiger, seinen Nächsten zu lieben, wie man selbst geliebt werden möchte?“ – Für viele Amerikaner ist die Börse mindestens ebenso wichtig wie die Nächstenliebe. Knapp die Hälfte besitzen Aktien als Altersvorsorge. Die staatliche Rentenversicherung bietet nicht viel mehr als ein Überlebensminimum. Dafür aber gibt es in den USA schon lange so etwas wie die Riester-Rente, also eine private Vorsorge, die steuerfrei bleibt – oft Aktien der eigenen Firma. Die Angestellten von WorldCom hatten vor zwei Jahren im Schnitt 40 Prozent ihrer Pensionsfonds in WorldCom-Aktien angelegt. Die sind inzwischen fast wertlos.

„Wir können einfach nicht länger auf eine Erholung warten“, stöhnt ein verzweifelter Familienvater in den Fernsehnachrichten. Der Sparplan für die Collegegebühren seiner Kinder hat schon fast drei Viertel seines Werts verloren. Leute, die kurz vor der Rente stehen, schieben reihenweise ihre Ruhestandspläne auf und arbeiten länger.

Die wertlos werdenden Aktiendepots könnten auch zu realwirtschaftlichen Problemen führen. Sie drohen, den Amerikanern den Konsum zu verderben. Dabei ist der private Verbrauch, der zwei Drittel des Sozialprodukts der USA ausmacht, die einzige Stütze der Konjunktur.

Verlieren die US-Amerikaner nun den Glauben an die Wunder des Kapitalismus? Lange schenkten Investoren den Lobreden der Analysten auf die von ihnen betreuten Unternehmen uneingeschränkt Glauben. Sie vertrauten darauf, dass Notenbankchef Alan Greenspan es schon richten werde, wenn gelegentlich doch mal Probleme auftreten.

Dieser Glaube ist dahin. Die letzte Rede des Fed-Präsidenten wurde mit fallenden Kursen quittiert. „Die Leute werden sich so lange nicht beruhigen, bis sie sehen, wie die ersten Firmenchefs in Handschellen abgeführt werden“, meint ein Journalist. Und tatsächlich: Am Mittwoch wurden die fünf Exchefs der Kabelfirma Adelphia verhaftet, weil sie eine Milliarde Dollar auf Privatkonten abgezweigt haben sollen.

Dennoch sind sich die meisten im Land einig: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern die Gier und das Fehlen von Moral in bestimmten Kreisen. Bezeichnend ist ein Essay, das ein Arbeiter einer Papierfabrik kürzlich in der New York Times schrieb. Der Chef seiner Firma, erzählt der Gewerkschaftsaktivist, verdiene 592 Mal so viel wie er selbst. Letztes Jahr hätten die Gewerkschaften in seinem Betrieb Einschnitte akzeptiert, um einen Stellenabbau zu verhindern. Der Chef aber habe später dafür Aktienoptionen von 1,4 Millionen Dollar erhalten. „Das ist nicht Kapitalismus“, schrieb der Mann erbost, „das ist pure Gier.“

Das System, Firmenlenker mit Aktienoptionen zu belohnen, nutzt deren Gier aus, um sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Pech, dass sich da manche Unternehmenschefs angespornt fühlten, notfalls Höchstleistungen zu fälschen.

Jetzt werden Rufe nach staatlichen Zügeln für den Laissez-faire-Kapitalismus aus einer ungewohnten Ecke laut. „Kann das sein, dass die Finanzmärkte von der Regierung mehr Regulierung verlangen?“, fragt der frühere stellvertretende Fed-Präsident Alan Blinder. „Paradoxerweise lautet die Antwort ja.“ Wenn die Gewinne sprudeln, will die Wirtschaft in Ruhe gelassen werden. Sobald die Lage kritisch wird, dann kann nur einer helfen: der Staat. NICOLA LIEBERT