strübel & passig
: Mein Fenster

Als Kind war ich mir sicher: Wo ein Hineinschauen ist, da ist auch ein Herausgucken. Beziehungsweise: Wen ich sehen kann, der kann auch mich sehen. Das Prinzip hatte ich bereits mehrfach erprobt: Bei Fensterln hatte es sich bewährt, auch bei Tanten und Taschenspiegeln schien es zu stimmen. Wie sollte ich da ahnen, dass es sich mit dem Fernsehen anders verhielt? Es wäre ja auch nur gerecht gewesen: Wenn ich schon immer Peter Lustig zusehen und -hören musste, warum sollte er nicht auch mir lauschen? Viel weniger unterhaltsam war das sicher nicht. Es dauerte, so erzählt man mir noch heute, geraume Zeit, bis ich mich damit abfinden wollte, dass der Fernseher nicht antwortete.

 Und dann kam das Internet: Aussehen wie eine promovierte morgenländische Sexgöttin und dabei erzählen, man sei ein 48-jähriger Hilfsarbeiter mit dickem Wanst. So schlecht, fand ich mit zunehmendem Alter und Gewicht, war diese einseitige Sicht der Dinge gar nicht.

 Bis ich Frantisek kennen lernte. Frantisek war 70 und mein Nachbar. Wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, zog er immer einen imaginären Hut und wünschte mir „an scheenen guten Tag, Freilein“. Nachdem wir uns ein paarmal unterhalten hatten, fragte er neugierig, ob er sich bei mir dieses Internet „einmol anschaun“ dürfe. Und als er dann so andächtig vor meinem Rechner sass, deutete er plötzlich auf die Webcam, die neben dem Rechner herumlag, und fragte: „Freilein, kennen Sie denn damit in die Maschin hineinfotografieren?“

 Da war sie wieder, meine Kindheit. Wenn die mich sehen konnten, war es doch nur recht und billig, dass auch ich sie … Mein Blick schweifte zum Fenster hinaus und verschwamm, als mein ungezogenes inneres Kind auch schon hüpfend loszog: Den Pfarrer im einhändigen Amica-Chat fotografieren. Robert T. Online nackt beim Scheißen erwischen. Langweilige Hausfrauen mit halbkinky Katzenpseudonymen (wir berichteten) als, ja, langweilige Hausfrauen mit halbkinky Katzenpseudonymen enttarnen! Und umgekehrt: Wie, wenn ich die Leute zwingen könnte, mir ins Gesicht zu schauen, wenn ich ihre elenden Get-a-bigger-dick-Mails schmähte? Was, wenn ich unsägliche Porno-Pop-ups endlich mit prüden Gardinenpredigten beantworten könnte? „Schämt euch!“, würde ich Jennifer und Mandy, die horny teenage bitches, nur 41 cent/min., sauertöpfisch anschnauzen, „was würde eure Mutter dazu sagen?“, und, wahrlich, die Pop-ups würden sich vor Schreck selbst schließen, die Mädels würden ihre Leibchen zuknöpfen und das plötzliche Bedürfnis verspüren, Mama anzurufen. Ach, die Welt wäre ein besserer Ort, hätte man Ron Sommer beizeiten persönlich die Meinung in seinen Rechner geigen können. Das hatte er nun davon!

 „Challo, Freilein?“, fragte Frantisek besorgt. „Ist Ihnen alles in Ordnung? Entrückt sah ich ihn an. „Nein, Herr Frantisek, ich … äh …“ Frantisek verabschiedete sich recht schnell. Er merkte, dass ich anderen Gedanken nachhing. Schon halb zur Tür hinaus, drehte er sich noch einmal um. „Freilein“, sagte er, „diese Internet ist nicht geheier.“ Sprach’s, zog seinen imaginären Hut und ging zurück in seine Wohnung. Ich schloss die Tür und schaltete den Fernseher an. Christiansen, na ja, warum nicht. „Na, Sabine“, prostete ich ihr zu, „auch so 'n komischen Tag gehabt?“ Aber Frau Christiansen beachtete mich gar nicht. IRA STRÜBEL

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