Entbeinungsfantasien

Wie viel verdankt der Horror-Film der Horror-Realität – und nicht etwa umgekehrt? In seiner Dokumentation „American Nightmare“ lässt Adam Simon die Großmeister des Genres manch unpopuläre These vertreten

Die Leinwand ist schwarz. Es knistert, und es ist nicht das berühmte Geräusch der notorischen Süßwaren-Tüte, die zum durchschnittlichen Kino-Besuch gehört wie die Trampolinspringer im Rücken. Nein, hier knistert die Tonspur ganz organisch, mit toter Haut, welkem Fleisch und kaputten Körpern ...; begleitet von den schleifenden, scharrenden und reißenden Lauten verdichten sich die einzelnen Effekte zu einem stillen Schrei. Das erste Bild zeigt eine ausgestreckte, fahle, äußerst ungesund wirkende Hand. Gefolgt von einem brennenden Haus, randalierenden Polizisten und Szenen aus dem Vietnam-Krieg. Hinzu gesellen sich ein paar Leichen sowie eine Gruppe wankender Untoter undRednecks mit Flinten unter dem Arm. Vignetten des Grauens. Was ist Real Horror und was ist Reel Horror? Die Montage arbeitet sich dem Höhepunkt entgegen: Nixon in der Parallelmontage mit Leatherface, dem Kettensägen schwingenden Unhold aus Texas Chainsaw Massacre. Nixon: „North-Vietnam can not defeat or humiliate the United States...“ – Leatherface: „...“ (wortloses Grauen) – Nixon: „...only Americans can do that.“

Männer im besten Alter, zum größten Teil grauhaarig, erzählen einen vom Pferd, dazu erscheinen ihre Namen in fetten Buchstaben: George Romero, John Carpenter, Tom Savini, David Cronenberg, Wes Craven – schließlich der Titel: The American Nightmare. Mit Cronenberg wird ein Kanadier eingemeindet und im weiteren Verlauf der Dokumentation stoßen noch Tobe Hooper und John Landis zu dieser illustren Runde, die in den Siebzigern maßgeblich die Entwicklung des modernen Horror-Films bestimmt hat. Bis auf Savini, der hauptsächlich durch seine Arbeit als Maskenbildner für Romeros Zombie-Trilogie zu Ruhm kam, verdienten sich die Beteiligten ihre Lorbeeren als Regisseure von Genre-Klassikern wie beispielsweise des besagten Texas Chainsaw Massacre, Night Of The Living Dead, Halloween, Last House On The Left und Shivers.

Der Vater von American Nightmare, Adam Simon, arbeitet seit Ewigkeiten als Regisseur und Autor in derselben Branche. Bisher war er vorwiegend für den berühmtesten aller B-Movie-Mogule, Roger Corman, tätig. Zu seinen Verbrechen zählen u. a. das unsäglich blutige Jurrassic Park-Plagiat Carnosaur und das – nicht mit Peter Jacksons gleichnamiger Splatter-Comedy zu verwechselnde – Machwerk Brain Dead. Vor ein paar Jahren sorgte Simon mit einer Doku über die Regie-Legende Sam Fuller, The Typewriter, The Rifle & The Movie Camera, für Furore auf den Indie-Festivals dieser Welt. In einem Chat mit Fans beschrieb Simon die Motivation, American Nightmare zu drehen, mit nahezu zwingender Logik: „Ich hatte einfach das Gefühl, dass es im Zusammenhang mit Horror-Filmen fundamentale Fragen gibt, die noch niemals gestellt wurden – wie diese Filme funktionieren, was sie auslösen, welche Bedeutung sie haben. Und in einer Dekade, in der jeder Horror-Film verdammt wird als etwas, was Kinder ängstigt oder gar bedroht, wurde es Zeit, dass mal einer sagt: Diese Filme sind gut für uns!“

Von drei zurückhaltend klugscheißenden Akademikern begleitet, können die Großmeister der Entbeinungfantasien diese unpopuläre These mit Fakten und Anekdoten verdeutlichen. Schnell zeigt sich, wie viel der Horror-Film unserer Horror-Realität verdankt. Und nicht etwa umgekehrt. Nicht vergessen: It‘s only a movie! Das wahre Leben kennt kein Happy End.

Lars Brinkmann

tägl., 20.30 Uhr, 3001